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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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Messingschlüssel aus der Tasche. »Hier«, sagte sie. »So machen wir es. Das ist besser. Ich kann dich zurückversetzen. In eine Zeit, in der alles wieder so ist, wie es einmal war.« Der Schlüssel war ungefähr fünfzehn Zentimeter lang und hatte einen Schmetterlingsgriff, die Spitze ein ungeschliffener Smaragd. Wieder wehte ein böiger Wind, ein Unwetter drohte aufzuziehen.
    »Das ist Vaters Schlüssel.«
    »Er benutzt ihn nicht mehr. Er ist zu krank. Er vermisst ihn nicht.«
    »Er hat mir verboten, ihn anzufassen.«
    Titania legte mir den Schlüssel in die Hand.
    »Hab keine Angst«, sagte sie, schob sich ihr Kleid über die Taille hoch und entblößte ihren weißen Bauch, der Bauchnabel ein Grübchen in der seidenweichen Halbkugel; tief und dunkel übte er seinen Zauber auf mich aus. Titania schloss die Augen und wartete. »Bitte, Peter«, sagte sie. »Du musst dafür sorgen, dass das Gift verschwindet.«
    Unbeholfen schob ich den Schlüssel hinein.
    »Vorsichtig.« Sie zuckte zusammen. Ich spürte, wie der Schlüssel einrastete. Titania schnappte nach Luft. Ich begann ihn zu drehen. »Langsam«, sagte sie. »Langsam.« Tief in ihr zischte und fauchte etwas: Mathematische Monster regten sich. Selbstvergessen sank sie auf den Flipper; ihre mitternachtsschwarzen Locken wirbelten Staub auf. Der Schlüssel ließ sich immer schwerer drehen; mir taten die Finger weh. Ich zögerte, weil ich befürchtete, etwas könnte brechen. »Noch ein klein wenig«, sagte sie, »nur noch ein klein wenig.« Mit beiden Händen drehte ich den Schlüssel um hundertachtzig Grad weiter. Sie schrie mit unfassbar hoher Sopranstimme. Der Flipper leuchtete auf; Flaschen zerbarsten an der Wand; Kerzen explodierten wie Magnesiumfackeln.
    Der Wind, der ungeduldig hinter den Kulissen gelauert hatte, stürmte jetzt durch den Keller. Er umtoste nur mich und ignorierte alles andere. Ich wurde von den Füßen gerissen. Während ich mich an dem Schlüssel festklammerte wie ein verankerter Drache, wirbelte der Wind mich in einer wilden Zentrifuge herum. Der Keller verwandelte sich in ein Meer aus Lichtstreifen; Titanias Bauch, eine weiße, weitläufige Fläche, eine salzversengte Tundra, zog mich hinein in seinen finsteren Minenschacht. Der Bauchnabel war zu riesenhafter Größe angewachsen, ein schwarzes Loch, das mich in ein anderes Universum saugte. Ich fiel in sein samtenes Maul.
    In freiem Fall stürzte ich durch einen dunklen Tunnel, der von blutroten alphanumerischen Zeichen erleuchtet wurde. Der Tunnel erstreckte sich in die Unendlichkeit; und während ich fiel, dröhnte ein Dschungelrhythmus durch seine Wände. Ich wurde von Turbulenzen erfasst und überschlug mich; aber Furcht empfand ich keine; mein Herz raste glücklich, angenehme Schauer wie bei einer Achterbahnfahrt überliefen mich. Blut und Kristall vermischten sich, nahmen die Konsistenz von Bernstein an, wurden lachsrosa. Der Tunnel war zu einer pinkfarbenen Glasmembran geworden. Das Pulsieren wurde schwächer, die Membran platzte. Ich roch Gras, spürte Sonnenschein auf meinem Gesicht, hörte Stimmengeplapper. Schließlich öffnete ich die Augen.
    Ich befand mich auf dem Grosvenor Square und spielte mit Mama. Um uns herum betrachteten die Reichen und die Schönen ‒ Filmstars, Modeschöpfer, Künstler ‒ mürrisch die Paparazzi, die überall herumschlenderten. Ich aß ein Eis; Vater unterhielt sich mit Freunden. Unsere Automaten, Treacle, Tinsel und die nagelneue Titania, tanzten mit einigen unserer Gäste Quadrillen. Männliche Puppen in der Gestalt von Harlekin und Pierrot, Gilles, Scapino, Cassandre und Mezzotinto schenkten Wein aus und reichten Kuchen. Halb wach, halb schlafend ruhte ich an Mamas Brust und beobachtete, wie die Tanzenden zur höfischen Musik einer gamme d’amour ebenso kunst- wie würdevolle Muster bildeten. Es war einer von Vaters »Watteau-Nachmittagen«: ein vergnügliches Possenspiel zur Sommerwende, eine dem Meißener Porzellan abgeschaute Idylle, der ein wenig Raum und Zeit eingeräumt wurde.
    Titania tanzte an uns vorbei. War ich schon damals in sie verliebt gewesen, wenn auch ohne es zu wissen? Meine Colombina, die Soubrette, in den lieblichen Satin und die Rocaillefalten des frühen achtzehnten Jahrhunderts gehüllt! Sie winkte mir mit ihrem lackierten Fächer. Gläser klirren, Bienen summen. Die Zeit schläft tief und fest.
    »Meine Arbeit« ‒ die Stimme meines Vaters weht vorüber ‒ »besteht darin, die spirituelle Physiognomie der Materie

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