Tote Mädchen
fragte Morgenstern. Die beiden Männer, die fast eine Katastrophe ausgelöst hätten, murmelten etwas, das nach »Ja ja, glaub schon, klar doch, Jack« klang. Einer von ihnen hatte sich auf seine Schuhe erbrochen. »Also, noch mal von vorne«, sagte Morgenstern. »Aber behutsam!«
Der Bauchnabel war erloschen; Primavera wurde auf den Golfwagen gehoben und ohne weitere Zwischenfälle hinausgefahren.
»Los, stell dich wieder dahin, wo du warst, Zwakh. Dort drüben, neben Kito.« Mit den Händen über dem Kopf durchquerte ich langsam den Raum.
Ein Schrei, EEEE! Gefolgt von plötzlicher Stille.
Morgenstern rannte hinaus. Ich folgte ihm, und dass ich ein Mensch war, schützte mich vor einer Salve aus einem Puppenscrambler, die eine der schießwütigen Pikadons abgefeuert hatte. »Primavera«, rief ich. Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Golfwagen; ihr Atem ging flach. Morgenstern hatte mich am Arm gepackt. Er war totenbleich, und seine Augen rotierten in dem verzweifelten Versuch, den Horizont abzutasten.
Im Lumpini Park erhob sich, majestätisch von Flutlichtern angestrahlt, die Kuppel der St Paul’s Cathedral über den Dächern von Bangkok. Eine Straße weiter ragte Big Ben auf, umgeben von den Stupas buddhistischer Tempel, und die Suchscheinwerfer der verbotenen Zone beschrieben von der anderen Seite des Chao Phraya ihre vertrauten Kreisbögen. Der Big Weird war plötzlich um einiges größer geworden. Und unheimlicher.
»Was passiert mit uns?«, wollte Morgenstern wissen. Ich schüttelte seine Hand ab.
»Wir sind gar nicht rausgekommen«, sagte ich. Jinx, Kito und die Pikadons drängten sich an die Kuppelwand. »Wir befinden uns in Primavera. Sie hat uns in ihre Matrix aufgenommen. Wir sind ein Teil ihrer Träume geworden.«
»Sie haben gesagt, die hätten ihr eine Ladung Staub verpasst«, empörte sich einer der Schläger. »Und sie könnte uns nichts anhaben!«
Morgenstern legte sich eine Hand auf die Stirn. »Ich muss nachdenken.« Er stampfte mit den Füßen auf. Seine Augen irrten noch immer wie benommen in den Höhlen herum. »In ihren Träumen, was? Dann werden wir sie wohl wecken müssen. Wir müssen ...«
»Sie wecken ‒ klar doch. Und wie, bitte, wollen Sie das anstellen? Das da ist nicht Primavera«, sagte ich und deutete auf das schlafende Mädchen, das noch immer auf dem Golfwagen lag. »Das ist ...« Aber ich wusste nicht, wer es war.
»Sehr wahrscheinlich eine Simulation«, sagte Spalanzani. Er war aus der Kuppel getreten und betrachtete das aus den Fugen geratene Stadtbild durch seinen Zwicker.
»Herrgott«, sagte einer der Schläger, »sind wir das etwa auch ‒ verdammte Sims?«
Alle sahen Spalanzani an. »Stellen Sie sich vor, wir befänden uns in einem Traumgestalter«, erwiderte Spalanzani, »nur dass die Software der jungen Dame als ein jeu verité fungiert.«
»Tolles jeu verité «, brummte Morgenstern. »Wir können überhaupt nichts beeinflussen. In einem Klartraum kann man alles kontrollieren.«
»Wir sind Eindringlinge«, sagte Spalanzani. »Die junge Dame bestimmt, was hier gespielt wird.«
»Weck sie auf, Jack. Gib ihr eine Spritze oder sonst was. Aber hol uns hier raus.«
»Reißt euch zusammen«, sagte Morgenstern. »Wenn wir Sims sind, kann uns nichts und niemand etwas antun.«
»Gut möglich«, sagte Spalanzani. »Aber wenn wir nicht körperlos sind, könnte es gefährlich sein, die junge Dame zu wecken ‒ selbst wenn das nur eine Simulation von ihr ist. Die Träumerin könnte die Herrschaft über ihre Träume erlangen.«
Gefährlich. Das schien ein guter Grund zu sein, sie aufzuwecken. Vielleicht war das die letzte Chance, die Primavera und mir noch blieb ...
»Ich könnte es versuchen«, sagte ich. Morgenstern musterte mich argwöhnisch. »Wie sollen wir sonst hier rauskommen?«
»Nein«, sagte Morgenstern. »Spalanzani, versuchen Sie es. Pumpen Sie sie mit Aufputschmitteln voll. Das Risiko müssen wir eingehen.«
»Das Risiko, dass sie bei Bewusstsein sein könnte, ist nur ein Faktor. Nehmen wir einmal an, die Aufputschmittel wirken ‒ entweder als reine Symbolik, als therapeutische Symbolik oder in Wechselwirkung mit der Physis ‒ was für Auswirkungen wird das auf die junge Dame in der wirklichen Welt haben? Sie ist sehr krank; vielleicht stirbt sie sogar ...«
Morgenstern strich sich über den Bart. »Tja, wenn sie stirbt, während wir hier drin sind, sitzen wir wohl erst recht in der Scheiße.«
»Ich wollte sie operieren«, sagte
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