Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
Vom Netzwerk:
Morgenstern hinüber. »Er ist unverbesserlich.«
    »Da drüben«, sagte Primavera. »Halt!«
    Wir fuhren links ran. »Das Astoria?«, sagte die Fahrerin. »Da bringen sie Shakespeare und so was. Sie sollten es mit einem Musical versuchen ...« Draußen verkündeten Plakate: Salomé ‒ Ein neues Schauspiel von Dr. Toxicophilous . »Außerdem ist heute Premiere. Da bekommen Sie bestimmt keinen Platz mehr.«
    »Premiere? Iggy, da ist er ganz sicher anwesend.«
    »Ich dachte, wir wollen nach Soho«, sagte Morgenstern.
    »Aber hier wird ein Stück von ihm uraufgeführt! Wir können bis zum Schluss warten und dann ›Autor! Autor!‹ rufen.«
    »Das ist doch völlig verrückt«, sagte ich.
    »Und wie!«, sagte Morgenstern.
    »Wer hat dich gefragt, du Wichser?« Primavera blieb auf dem Bürgersteig stehen. Ein Wagen raste vorbei und spritzte sie nass. »Diese ganze Welt ist verrückt«, sagte sie und wischte sich über die Augen. »Jetzt kommt. Lasst uns gehen. Lasst uns durchdrehen .«
    Die Verschmelzung von West-End-Schick der Jahrtausendwende mit dem labilen Gefüge des Weird hatte eine Theaterlandschaft geschaffen, die aus hoher Kunst, Profitmacherei und einem Hang zu lauten Spektakeln bestand. Primavera drängte sich an Klonen in großkotzigen Abendkleidern, Blumenmädchen und Äffchen in safrangelben Gewändern vorbei: Primavera hoch zwei, Primavera hoch drei, vier, fünf, Primavera hoch 100.
    »He du ‒ ja du, mit den Emailleaugen ‒ für ein paar Baht verkaufe ich dir ...« Primavera streckte den Marktschreier mit einem Muay Thai-Tritt nieder, der »Der Alligator schwingt seinen Schwanz« genannt wurde. Ich folgte ihr durch ein Gewühl neugieriger Augenzeugen, und wir betraten das Foyer des Theaters.
    »Premiere, was?«, sagte Primavera. Das Foyer war leer.
    »Lampenfieber?«, sagte ich. Wir begaben uns ins Parkett.
    »Iggy, hier ist kein Mensch!« Wir setzten uns in eine der hinteren Reihen; Morgenstern nahm sicherheitshalber auf der anderen Seite des Ganges Platz. Der Zuschauerraum war klein und schmutzig. An einem Fries über uns, einer Parodie phidianischer Kunst, hingen zahllose Spinnweben; der Boden war von Fledermausköteln übersät; die Sitze waren aufgeschlitzt, der Bühnenvorhang ausgefranst; und alles war in fahles Licht getaucht. Dann gingen die Lampen aus ‒ der Vorhang wurde hochgezogen.
     
    Auftritt
    Der Palast des Herodes. Ein Boudoir ‒ das Boudoir einer Puppe ‒ hoch über den Straßen von Neu-Jerusalem. Salomé macht gerade Toilette, wobei ihre Zofe ihr zur Hand geht.
     
    ZOFE ( beiseite ): ›Salomé, nicht Salome‹, sagt die Prinzessin von Judäa. ›Salome klingt wie Salami, und ich bin Französin, savez-vous ? Noch eine Salami, und du wirst bis ans Ende deiner Tage von Salami und Teerwasser leben ...‹ Dann sagt doch Electrolux zu mir, gnä’ Frau, nicht Elektra. Schließlich bin ich Engländerin! Aber ich verkneife mir das natürlich. Sie brauchen griechische Sklavin? Ich spielen griechische Sklavin. Ich spielen gut!
    SALOMÉ: Wer ist denn eigentlich dieser Jokanaan?
    ZOFE: Ein Prophet, gnä’ Frau. Der eine Vision von Christus als Shiva hatte.
    SALOMÉ: Ich habe gehört, dass er hübsch sein soll. So hübsch wie der Erzengel Gabriel. Und grausam. Fast so grausam wie ich!
    ZOFE (beiseite): Nun ja, vielleicht braucht ein böses Mädchen wie sie ja einen bösen Jungen wie ihn. Seit ihre Mutter Herodias von Paris herübergekommen ist und sich mit dem Großen Juden, Herodes höchstselbst, eingelassen hat, kratzt sie an der Wunde ihrer Langeweile wie eine Sexratte, die an ihren eigenen Eingeweiden nagt ... ( Zu Salomé ) Er ist ein Rebell, gnä’ Frau. Spricht von Revolution. Vom Verfall und Untergang des Empire de luxe . Spricht von einem, der ihm »nachfolgen« und die Rasse neu programmieren wird, ein Leichenräuber, der uns alle verändern wird ...
    SALOMÉ: Hosianna dem Höchsten! Vielleicht statte ich ihm einen Besuch ab. Ich mag Kerle, die ein wenig verrückt sind. Mal etwas anders, als immer nur mit Mamas Freundinnen Mah-jongg spielen.
    ZOFE: Hier ist Euer übertrieben dermoides Gewand; und hier sind Eure Schuhe mit den gefährlich hohen Absätzen. Jetzt noch die Kriegsbemalung: Lippenstift aus marinierter Vorhaut, Mascara aus geschwärzten Knochen ...
    Primavera warf ihre Beine über den Sitz vor ihr. »Mensch, ist das langweilig«, sagte sie. Ich legte ihr den Arm um die Schultern. Dabei wurde mir bewusst, dass ich das noch nie getan hatte: Ich war noch nie mit meiner

Weitere Kostenlose Bücher