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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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Freundin ins Theater gegangen oder ins Kino. Anscheinend war das etwas, das nur normale Leute taten. (Schön und gut, ich hatte sie zur Premiere von Die Geburt einer Nation eingeladen. Tolle Spezialeffekte! Ich kann mich noch gut an die Phi Gaseu , vom Körper abgetrennte Köpfe, an denen Gedärme baumelten, erinnern. Sie taten sich an den Ungeborenen Siams gütlich und standen symbolisch für die negroide und slawische Dekadenz des Westens, der das Volk Siams so heldenhaft widerstanden hatte. Klar doch. Großartig. Aber das war Arbeit gewesen ...) Morgensterns Kopf fiel nach vorne; er fing an zu schnarchen. »Soll ich dich vampirficken?«
    »Küss mich«, sagte ich. »Tu so, als ob ...«
    »Hör mir bloß damit auf! In der hintersten Reihe knutschen ist was für kleine Kinder.«
    »Vielleicht könnten wir ...«
    »Ja, und vielleicht weißt du mir einen guten Zahnarzt!« Sie streifte meinen Arm ab. »Langweilig. Langweilig!«
    Das Theaterstück ging weiter. Hochtrabende Dialoge wechselten sich mit affektierter Gossensprache ab. Die Neunziger in Reinkultur! Salomé trifft sich mit Jokanaan (Primavera mit Bart); Jokanaan redet wirres Zeug. Anscheinend möchte er aus Salomé eine kleine Watteau-Göttin machen. Anscheinend kommt bald Jesus, der große Programmierer, der schwarze Christus, der Christus der Schuld und der Schmerzen mit dem Schwert in der Hand, um die Modewelt zu verheeren. Und Salomé lächelt. Erfreut.
    »Haut ihm den Kopf ab«, sagt Primavera. »Jetzt macht schon! Seht ihr nicht, dass er es genau darauf abgesehen hat?«
    Aber erst müssen sie noch ein wenig mit den Füßen scharren. Herodes (Primavera mit einem anderen Bart) schaut unter gesenkten Augenlidern hervor; vor Schlaflosigkeit hat »er« Ringe unter den Augen. Und Salomé, deren zweite Haut in allen Primärfarben schillert, stolpert über die Bretter, den Hals zwischen den Beinen oder ein Fußgelenk hinter dem Kopf ‒ eine wirbellose Schlangenfrau mit wildem, an Medusa gemahnendem Haarschopf. Dann der Präsentierteller mit reichlich Blut. Schließlich der letzte Vers ‒ der Vers, auf den die Welt gewartet hat:
     
    HERODES: Tötet diese Frau!
    Primavera sprang auf. »Autor! Autor!«, kreischte sie und klatschte wie wild. Ich spendete ebenfalls Beifall. Morgenstern blinzelte, stand auf und schloss sich uns an. Der Vorhang fiel; erneut enthüllte das Auditorium sein feindseliges Gesicht. Morgenstern gab als Erster auf; dann ließ ich die Arme hängen. Primavera rief weiter »Autor! Autor!«, bis ihr Applaus nur noch wie Einhandklatschen klang: Der gute Doktor würde nicht erscheinen.
    »Wir haben wertvolle Zeit verloren«, seufzte Morgenstern. »Wir hätten besser ...« Primavera sah ihn mit einem Blick an, auf den er immer reagierte, als hätte ihm jemand Limettensaft in die Augen gespritzt.
    »Soho«, sagte ich.
    »Idiot«, sagte Primavera und hüpfte über die Sitzreihen, als wollte sie einen Hürdenlauf über hundert Meter gewinnen. Unsere Autorikscha hatte gewartet, und bald flitzten wir wieder durch Schluchten aus Stahl und Beton. Der Nachthimmel war wie Marmor geädert, wie eine aufgeschlitzte Membran ‒ zerstört, nutzlos. Es fing an zu regnen: Die Tropfen zischten und knallten. Beiderseits der Wasserstraße wich der Wohlstand dem Elend. Nichtmenschliches Treibgut kauerte im Gerippe ausgebrannter Gebäude umrußende Feuerstellen; finstere Gestalten drückten sich in Eingängen herum; unter Apache -Röcken blitzten Dolche hervor, zwischen Strumpfbänder und Oberschenkel geschoben; Wäscheleinen waren wie die Wimpel karnevalesker Schäbigkeit über die Gassen gespannt; Miniatur-Primaveras gingen im Sturzflug auf uns nieder, sprangen aus den oberen Stockwerken der Slums in die chemische Brühe des Klong; der Regen ließ nach, bis es nur noch nieselte.
    »Wir sind da«, sagte unsere Fahrerin. Auf Eisenstelzen, die so elegant wirkten wie ein Pariser Metro-Eingang, erhob sich Frenchie’s auf einer Insel aus Schlick, die grelle Lebendigkeit ein krasser Kontrast zu den umliegenden, mit Brettern vernagelten Mietskasernen, den leeren Restaurants und tristen Geschäften, in denen angelsächsischer Schweinekram verkauft wurde.
    »Warten Sie hier«, wies ich die Fahrerin an. Wir überquerten einen Steg, und eine Türsteherin begleitete uns die Treppe hinauf in die hippe Schattenwelt des Big Weird hinein.
    Morgenstern ging schnurstracks zur Bar. »Einen Screwdriver.« Seine Hände zitterten.
    »Die Spätfolgen deiner Flugnummer«, sagte ich zu

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