Tote Mädchen
den Fingern und ging davon.
Primavera steckte den Kopf durch die Tür. »Wollt ihr da draußen übernachten?« Im Café selbst war ihr Gesicht überall: Gäste, Kassiererinnen, Stadtstreicherinnen, mechanische Bettler ... Eine sitzende Reihe von Primaveras musterte uns misstrauisch und wandte sich dann mit einem synchronen Kopfschütteln wieder ihren Milchshakes zu.
»Anscheinend bin ich die Einzige, die in dieser Stadt lebt«, sagte das Original. »Bis auf den guten Doktor natürlich.«
Wir schlenderten zu einer Batterie von Transcoms hinüber. Ein Primavera-Klon in einem zweiteiligen Nadelstreifenkostüm fragte: »Von Mensch zu Mensch? Von Sender zu Sender? Oder von Maschine zu Maschine?«
»Von Gift zu Gift«, erwiderte Primavera.
»Yeah«, fügte ich hinzu, »Dr. ...« Bei meinen lüsternen Lenden, ich wusste nicht mal, wie der Typ wirklich hieß. Niemand wusste das. Im Laufe der Jahre waren wir immer abergläubischer geworden und hatten uns kaum getraut, seinen Namen auszusprechen. Vielleicht war er ja ein Tetragramm? »Toxicophilous«, sagte ich.
»Und wenn Sie ihn nicht selbst dranbekommen, versuchen Sie es bei einem seiner Haushaltsgeräte!«
»Einen Moment, bitte.«
Im Computer war kein solcher Name gelistet.
Primavera wandte sich Morgenstern zu ‒ offenbar hatte sie es satt, an der Nase herumgeführt zu werden. »Hör zu, du Wichser, entweder du strengst dich jetzt mal richtig an, oder ...«
»Süße!« Ein Klon kam durch das Café gerannt und küsste Primavera auf die Wange. »Wir haben uns ja seit der Schule nicht mehr gesehen!«
»Wenn du meinst.«
»Toxicophilous«, sagte Morgenstern (der eindeutig keine Lust mehr hatte, mit Primavera durch die Gegend zu fliegen), »kennen Sie den vielleicht?«
»Ach, der «, erwiderte der Klon.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte ich.
»Sind Sie von der Zeitung? Ich dachte, Sie wüssten alles über ...«
»Nein«, sagte ich.
»Wir sind Oneironauten«, sagte Primavera. »Außerirdische. Bring uns zu eurem Anführer. Bring uns zu Dr. Toxicophilous.«
»In was für einer merkwürdigen Welt wir doch leben!«, sagte der Klon.
Klatsch! , sagte Primaveras Hand. »Wach auf!«
Völlig ungerührt (obwohl ihr das Blut über das aufgekratzte Gesicht lief) sagte der Klon: »Versuchen Sie es in Soho. Bei Frenchie’s .«
Morgenstern war schon zur Tür unterwegs.
»Und hüten Sie sich vor den Rippern!«
Draußen wartete eine Autorikscha auf uns, und eine Fotokopie von Primavera blickte uns erwartungsvoll entgegen. »Ripper?«, fragte ich.
Primavera stieg eilig ein. »Meine Gehirnzellen sagen die verrücktesten Dinge.«
Das dreirädrige Gefährt surrte durch die Straßen zweier Weltstädte. Wir kamen uns vor wie in einem Themenpark, in dem sich Bilder von London aus halb vergessenen Schulbüchern mit Symbolen unseres Exils in Siam abwechselten. Aus Taxis, Bussen, Wassertaxis und Tempeln, aus Kneipen, Massagesalons, Garküchen und Theatern erwiderten Nachteulen unsere Blicke ‒ tausend grüne Augen, die uns anstarrten, bevor sie sich wieder ihren Geschäften, ihren Vergnügungen oder dem Nichts zuwandten.
Wasser schwappte über den Asphalt. »Wo wir hinfahren«, fragte ich die Fahrerin, »gibt es da Kanäle?«
»Haben Sie Angst, sich die Füße nass zu machen?«, entgegnete sie. Das Wasser stieg allmählich an; schwarze Gischt strömte in den offenen Innenraum der Rikscha; wir durchquerten das aquapolitische Herz der Stadt. Weit über uns, wo das Geld zu Hause war und die Luftfilter den Smog in Schach hielten, leuchteten die Fenster der Penthousewohnungen wie himmlische Goldbarren. Wie viele reiche Schlampen in Gestalt von Primavera blickten wohl auf uns herab? Wir waren hier, um sie zu retten. Wo waren die Luftschlangen, die Feuerwerksraketen, die Jubelstürme?
Der Gestank der Klongs war allgegenwärtig; morgendliche Erschöpfung; Verfall. Wir befanden uns im Puppenraum. Im Bewusstsein einer Maschine. Unrein, wie alle Gedanken, aber weit mächtiger als das Bewusstsein der Menschheit, bestand es doch aus Psychonen aus Eisen, Glas und Stahl, ein neonheller Strudel von komplexer Einfachheit, aus dem die aleatorische Musik emporstieg, die die Welt so verzauberte; Musik, die greifbar war, dimensional; Musik, die aus Sehnen und Muskeln bestand, die körperlich war.
»Neu in der Stadt?«, fragte die Fahrerin.
»Ja«, erwiderte ich, »geschäftlich unterwegs.«
»Sie sollten sich eine Show ansehen. Man kann nicht nur arbeiten ...«
Ich blickte kurz zu
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