Tote Männer Milch (German Edition)
geübten Griff gerade die Hälse umgedreht hatte.
„Je mehr Gänse wir verkaufen, je mehr Weihnachtsgeschenke für dich!“, pflegte ihr Vater stets zu sagen. So hörte sich das Geräusch, welches das Halsumdrehen erzeugte, für Isolde wie Nüsseknacken an. Sie erinnerte sich auch wie der Vater mit einem ermunternden Augenzwinkern ihr selbst eine Gans in den Arm drückte. Wie er ihr die Taktik des Halsumdrehens genau erläuterte. Was überflüssig war, denn die kleine Isolde hatte sich schon längst durch aufmerksames Beobachten diese Technik angeeignet, so dass sie ihre erste Gans sozusagen im Handumdrehen meisterte. Als wäre es gestern, sah sie sich mit dem erwürgten Vogel in der Hand. Wie sie ihren Vater breit grinsend mit ihren Zahnlücken anstrahlte. Wie er sie verdutzt anstarrte, sich nachdenklich am Kopf kratzte und zu ihr dann sagte, dass sie jetzt aussähe wie ein kleines Monster. Wenn sich Isolde diese Erinnerungen bei anderen Gelegenheiten ins Gedächtnis rief, musste sie stets loslachen. Jetzt, blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Wenn er es richtig anstellt, dachte sie bitter, hört es sich an wie das Knacken einer Nuss. Isolde bekam eine Gänsehaut.
Ihre Pupillen schnellten nach links, als sie Pauls warmen Atem an ihrem Ohr spürte.
„Du hast einen wunderschönen langen Hals“, raunte er.
„Warum willst du ihn mir dann umdrehen?“, knurrte sie waghalsiger, als ihr zumute war.
Paul stutzte. Er hörte endlich damit auf, ihren Kehlkopf zu reizen und verfiel in herzhaftes Gelächter, als hätte man ihm einen guten Witz erzählt. Und zwar einen, den man erst nach reichlicher Überlegung kapiert. Isolde benötigte einige Wimpernschläge, bevor sie dieser Art Galgenhumor den erwünschten Reiz abgewinnen konnte. Ihre Kehle fühlte sich noch viel zu ausgedörrt an, als dass sie hätte unbeschwert in Pauls Heiterkeit mit einstimmen können. Mühsam brachte sie ein paar glucksende Laute hervor, die sich erst zu einem akzeptablen Stimmungshoch emporschwangen, als sich Paul schon längst wieder beruhigt hatte.
„Ist dir nicht gut? Warum gackerst du denn so?“, fragte er aufgeräumt.
Isolde verstummte und schluckte verhalten. Peinlich berührt strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und griff affektiert nach ihrem Glas. Sie hatte es bereits zu ihren Lippen geführt als sie spürte, wie Paul ihr Haar berührte. Gebannt linste sie auf seine Hand.
„Du hast auch wunderschöne lange Haare. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so schön weich anfühlen“, flüsterte er, während sie wie elektrisiert dabei zusah, wie er ihren Zopf versonnen über seine Handflächen gleiten ließ.
„Mein Mann…“, hob sie mit bebender Stimme an, „hat meine langen Haare sehr geliebt. Wenn ich sie mir abschneide, hat er gesagt, würde er mich sofort verlassen.“ Sie nahm einen beherzten Schluck aus ihrem Glas. „Verlassen hat er mich trotzdem“, schob sie schluckend nach.
„Er ist verunglückt.“
„Sicher“, erwiderte Isolde verschnupft und stellte das Glas energisch auf den Tisch. Mit einem zwangloseren Tonfall fuhr sie fort:
„Irgendwann wird man so oder so verlassen, egal, ob man lange Haare oder einen langen Hals hat.“
„Du hast deine Füße vergessen. Die sind auch schön.“
„Ich weiß“, sagte Isolde selbstbewusst. „Knut hat mich darauf aufmerksam gemacht.“
„Wer ist Knut?“
„Mein Liebhaber“, flötete sie, „eine Affäre, nichts Ernstes. Er hat mich nach dem Tod meines Mannes getröstet“, rechtfertigte sie sich grundlos. „Er war unsterblich in meine langen Haare und meine Füße verliebt – dieser Zausel. Dabei gibt es noch einiges mehr an mir zu entdecken, was schön ist.“ Isolde fing Pauls ratlosen Blick ein, als hätte sie das nicht anders erwartet. „Etwas, das über die weiblichen Attribute hinausgeht – innere Werte“, beeilte sie sich zu sagen, „zum Beispiel, effektiv zu sein, die richtigen Dinge zu tun…“
Sie ließ den Satz bedeutsam in der Luft hängen als könne sie sich damit eine Erklärung ersparen. Und tatsächlich, schien Paul den tieferen Sinn zu verstehen.
„Und vor allem effizient“, knüpfte er an. „Die Dinge richtig tun“, sagte er auf geheimniskrämerische Art deutlicher, während er Isolde eindringlich musterte, deren Sprachlosigkeit einem ergebenen Nicken wich.
Als hätte die Erkenntnis des gegenseitigen Einverständnisses sie aller Worte beraubt, versanken sie im Stillschweigen und blickten sich in einer Tonlosigkeit an,
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