Tote Männer Milch (German Edition)
sie auf die messerscharf geritzten Buchstaben, die sie beinahe körperlich zu spüren glaubte. Bis sie geistesabwesend begann, das Papier in kleine Stücke zu reißen und die Schnipsel in ihren Mund stopfte.
„Verräterin“, nuschelte sie kauend.
Die Augen leblos ins Leere gerichtet, würgte sie den Papierbrei hinunter und spülte mit Sherry nach.
„Verräterin“, wiederholte sie. Diesmal schreiend. Sie warf das Glas an die Wand, das zu Boden fiel, aber nicht zerbrach. Abrupt verfiel sie in ein hysterisches Lachen. Verhedderte sich einem irren Kichern, bis sie von einem heftigen Weinkrampf überwältigt mit dem Kopf auf dem Schreibtisch aufschlug. Einmal, zweimal …, in der Hoffnung, den Schmerz nicht zu spüren. Dann wäre alles nicht wahr, alles nur ein Albtraum. Aber die Realität ist eine gnadenlose Regentin, die Wert auf ihren schlechten Ruf legt. Es tat weh, so entsetzlich weh. Es half ihr auch nichts, mit geballten Fäusten auf der Tischplatte herumzutrommeln und alle Utensilien, die sich darauf befanden, mit einer wirschen Handbewegung herunterzufegen. Der Schmerz ließ nicht nach. Alles fühlte sich echt an. Die Scherben des Lampenschirms, den sie niedergemacht hatte, das Brennen ihrer Fäuste, das Salz ihrer Tränen. Nur kurz verebbte ihr Schluchzen und wich einer alarmierenden Anspannung. Wie jemand, der auf Erlösung hoffte, hob sie den Kopf und lauschte der Stimme, die von draußen zu ihr hereindrang. Aber es war nicht der geheimnisvolle Singsang einer spirituellen Erscheinung, die sie in diesem Moment der Verzweiflung herbeisehnte. Die ihr Absolution erteilte, nein, es war lediglich der irdische Ruf ihrer Nachbarin, Frau Müller, die den Namen ihrer Katze rief.
„Muschi … wo bist duuu … Muschilein!“
Isolde hielt sich die Ohren zu, atmete tief ein und aus, schloss die Augen, versuchte sich zu fangen. Das Leben geht weiter, irgendwie, irgendwo, irgendwann…, dachte sie.
Sie kroch aus ihren Schultern hervor. Stand auf, klaubte Papier und Schreibfeder zusammen und startete einen neuen Versuch.
Böse Liebe, schrieb sie.
Du bist das Unglück auf hohen Hacken,
die Hoffnung auf Krücken,
der Wahnsinn auf Stelzen,
die Phantasie im freien Fall!
Du bist böse! Und böse ist alles, was nicht gut ist! Du bist verabscheuenswert, weil du hinterhältig, selbstherrlich, berechnend, kaltblütig und verlogen bist! Aber das weißt Du selbst! Nur ich habe es nicht gewusst! Und selbst wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich es nicht geglaubt! Wie auch? Wer, wenn nicht ich, hätte sich Deinem verführerischen Zuzwinkern entziehen sollen. Wer, wenn nicht ich, hätte Deinen lüsternen Lockruf trotzen können. Ich war dazu prädestiniert auf Deine Schmeicheleien hereinzufallen. ICH, war das ideale Opfer Deiner Machtgier. Eine einsame Jungfer. Eine gehorsame Sklavin, die alle Probleme aus dem Weg geräumt hat, damit Du mir keine mehr machst! Eine einfältige Närrin, die über Leichen gegangen ist, um Dich am Leben zu erhalten. Ich war Deiner in Aussicht gestellten Wollust auf den Leim gegangen wie ein naiver Freier einer Hure! Ja, genau – HURE! Du bist die Hure aller Gefühle! Dein Preis war hoch. Ich habe ihn bezahlt und keine Gegenleistung erhalten! Deswegen stelle ich Dir jetzt meine Ausgaben in Rechnung. Meine Opfer!!! Was sind sie Dir wert? Nichts, wie ich annehme! Aber so billig kommst Du mir nicht davon! Ich verlange einen Schuldschein! Du schuldest mir Deine Schuld! Jawohl! Du bist die Drahtzieherin, die wahre Täterin – die Mörderin meiner Opfer! Du wirst Dich anklagen lassen. Du wirst gestehen! Du wirst alle Schuld auf Dich laden!!
Der Urteilsspruch wird nicht lauten:
Isolde Brösel hat aus Liebe getötet, sondern
die Liebe hat Isolde Brösel getötet!
Damit sind wir quitt!
Wenn Du mir wieder zuzwinkern solltest, haue ich Dir ein blaues Auge! Wenn Du mich anquatschst, haue ich Dir eins auf die Fresse! Ich weine Dir keine Träne nach! Du hast mich in den Ruin gestürzt und ich habe Dich in meinem Garten begraben!
Wie heißt es so schön? Es ist das Geheimnis des Lebens, dass wir alles überstehen!
Amen, hätte Paul jetzt vermutlich gesagt.
Wie tröstlich, sage ich!
Landshut den 9.9.2011
Isolde Brösel geb. Hackethal
Isolde faltete den Brief sorgfältig zusammen, beträufelte die Nahtstelle des Umschlags mit Wachs und drückte ihren Zeigefinger hinein. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, kam ins Wanken, verschaffte sich Halt an der Tischkante, blieb so
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