Tote Männer Milch (German Edition)
Schatulle, die im hinteren Eck versteckt zum Vorschein kam. Frau Müller mutmaßte, dass es sich dabei um Schmuck oder Bargeld handelte. Schließlich hatte sie ihre Habseligkeiten ebenfalls im Kleiderschrank versteckt. Obwohl ihr Mann als Postbote nicht üppig verdiente, war es ihr im Laufe der Jahre gelungen, einiges von ihrem Haushalsgeld abzuzwacken und ein kleines Vermögen anzuhäufen. Sie verspürte daheim ein geradezu sinnliches Gefühl, wenn sie über die gebügelten Geldscheine streichelte, sie nach Farben ordnete. Kein Sparzins hätte ihr diesen Lustgewinn ersetzen können. Dieses Geld war real. Diese Scheine rochen nach Sicherheit, in der ein hauchzarter Duft von Unabhängigkeit mitschwang. Nur allzu gut konnte sie Isolde verstehen, die ganz offensichtlich diese Leidenschaft mit ihr teilte. So kam Frau Müller nicht als potentielle Diebin in Frage. Nein, das war sie wirklich nicht. Sie war nur neugierig, ob sich Isoldes Werte mit den ihrigen messen konnten. Mit dem nötigen Respekt löste sie die beiden Einweckgummis, die um die Keksdose gebunden waren und öffnete den Deckel.
„Briefe“, brummte sie enttäuscht, „wie langweilig.“
Sie hatte die Schachtel bereits wieder verschlossen, um sie wieder an ihren Platz zu legen, als sie es sich doch noch anders überlegte. Wer weiß, dachte sie, vielleicht steht ja was Schweinisches drin. Erwartungsvoll legte sie sich aufs Bett und begann die Briefe sporadisch durch zu sehen. Alle Briefe befanden sich in Couverts. Alle Briefe waren mit der gleichen Handschrift versehen. Alle Briefe waren von Knut, ihrem Mann. Der Müllerin wurden die Knie weich, sie wollte aufstehen und alles ignorieren, doch begann sie zu lesen, ohne das zu wollen, ohne es zu verstehen. Las quer, um den schlüpfrigen Details zu entgehen. Überflog, um den Tatsachen zu entfliehen. Trotzdem schmuggelten sich Silben, Worte, ja sogar ganze Sätze, in ihr Hirn ein.
„Ich liebe deine schönen Füße, deinen schönen Hals – das ist kein Schmalz! Mein Röschen, mein Döschen, ich liege gedanklich in deinem Schößchen.“
Das war Schmuggelware der untersten Kategorie, aber machte die Sache auch nicht erträglicher. Weitaus angenehmer war da schon die Tatsache, dass ihre Nebenbuhlerin nun schwerverletzt im Krankenhaus lag. Vielleicht wird sie ja nie mehr ihre schönen Füße und ihren schönen Hals bewegen können, dachte die Müller. Wenn doch, so sinnierte sie finster, muss ich mir was einfallen lassen. Bevor ich freiwillig das Feld räume, muss diese langzottelige Hexe dran glauben. „Langzottelig“, wiederholte sie leise murmelnd, während sie ihr Gedächtnis nach Anhaltspunkten abgraste. Sie hätte zum Zeitpunkt des Unglücks nicht zu sagen gewusst, was an Isolde anders war als sonst. Jetzt wusste sie’s, sie hatte keine Haare mehr…
Die Müllerin schlüpfte aus ihrer Kittelschürze, warf sie auf einen Stuhl, streifte sich Hose und Pullover glatt, ergriff die gepackte Reisetasche, schloss den Hund im Zimmer ein und begab sich auf den Weg ins Krankenhaus. Sie fühlte sich gerüstet, hatte eine Entscheidung getroffen. Gute Miene zum bitterbösen Spiel zu machen, war eine Herausforderung, der sie sich zu stellen gedachte.
Isolde indes lag in ihrem Bett, hörte Radio und dämmerte vor sich hin. Die Musik tat gut, drängte ihre Gewissensbisse in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins, erstickte die schwelenden Gedanken, die den Geruch von Schuld verströmten. Die Angst war ihren Stimmungsschwankungen erlegen.
„Du siehst aus wie der aufgewärmte Tod“, begann die Müllerin, als sie das Krankenzimmer betrat, zynisch, wie es eigentlich gar nicht ihrer naiven Art entsprach.
„Danke“, erwiderte Isolde gleichmütig.
„Wie geht’s?“, hakte die Müllerin nach.
„Siehst du doch.“
„Also schlecht“, vergewisserte sich die Müllerin mit unterdrückter Erleichterung. „Gibt es denn keine Hoffnung mehr?“
„Hoffnung für was?“
„Na, dass du wieder laufen kannst.“
„Weglaufen, meinst du wohl“, knurrte Isolde abweisend.
Das wäre schön, dachte die Müllerin und empfahl gedanklich das Jenseits.
„Tja, da musst du jetzt durch und dich mit den Gegebenheiten abfinden, das ist hart, aber du hast dir das ja nun irgendwie auch selbst eingebrockt.“
Sie wirkt bedrückt, innerlich aufgewühlt, dachte Isolde. Sie verheimlicht mir etwas, sie hadert mit ihrem Gewissen – sie hat meinen Brief gelesen, weiß jetzt, dass ich eine Mörderin bin.
„Ja, du hast
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