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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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herum zum Laden. Das Spiegelglas war vergittert, und Neonreklamen
und verblichene Poster warben für mindestens zwei Sorten Bier, die es schon
lange nicht mehr gab. Als ich eintrat, sah ich einen jungen Asiaten, der Wodkaflaschen
aus einem Karton auf das Regal hinter der Theke stellte. Ich zeigte ihm meine
Lizenz und sagte, daß ich ihm ein paar Fragen stellen wollte.
    Wie lange arbeitete er schon hier? Er
war der Besitzer, hatte den Laden seit nun drei Jahren, nachdem der frühere
Eigentümer gestorben war. Nein, er wußte nichts von den Leuten, die früher in
der Gegend gewohnt hatten, wußte nicht viel über die, die jetzt hier lebten. Er
pendelte von Richmond. Dies war kein geeigneter Ort, um Kinder aufzuziehen.
    Ich ging zurück zu meinem Wagen und
fuhr ein paar Häuserblocks weiter zur Page Street. Die Gruppe hatte irgendeinen
Streit mit dem Hauswirt des Gebäudes an der Hayes Street gehabt und war nach
ein paar Monaten in eine andere Wohnung in der Nähe gezogen. Das Haus stand noch:
Es war dreistöckig mit einer pinkfarbenen Betonsteinfassade und einer
ausgetretenen Treppe. Ich stieg die Treppen hinauf und begutachtete die
Briefkästen. Nirgendwo war ein Name angebracht; eine der Türen stand offen, die
Scharniere waren gebrochen; ein Klingelknopf baumelte an freiliegenden Drähten
herab; die Stufen waren mit Zeitungen und Werbeprospekten übersät. Das Gebäude
gab mir kein Gefühl für die Vergangenheit. Ich spürte keine Verbindung zwischen
dem Haus und den gewalttätigen Plänen, die in seinen Mauern geschmiedet worden
waren.
    Ich ging die Treppe wieder hinunter und
schaute zu der Straßenecke im Osten. Die chemische Reinigung, wo Libby Heikkinen
hin und wieder gejobbt hatte, hatte sich in eine Edel-Bäckerei mit dem Namen ›Backtrog‹
verwandelt. Eine junge weiße Frau kam heraus, die einen Säugling in einem Wagen
vor sich herschob. Aus ihrem Einkaufsnetz ragte ein Baguette. An der
entgegengesetzten Ecke lag das Lebensmittelgeschäft, dessen Besitzerin den
Mitgliedern des Kollektivs erlaubt hatte, den Abfall nach eßbaren
Nahrungsmitteln zu durchstöbern — Rhondas Superette. Rhonda Wilson war
Leumundszeugin für die Verteidigung gewesen.
    Ihr Geschäft sah aus wie die meisten
Eckläden in der Stadt, mit Lebensmitteln in staubigen Kartons und Dosen, die
schon lange auf den Regalen standen; die Gänge waren eng, das Linoleum brüchig,
und die uralten Kühltruhen gaben pfeifende Geräusche von sich. Eine farbige
Frau in mittleren Jahren saß hinter der Theke und sah Rechnungen durch.
    Nein, sie war nicht Rhonda Wilson. Sie
und ihr Mann hatten ihr den Laden Mitte der siebziger Jahre abgekauft. Rhonda
war nach Nevada gezogen, aber sie wußte nicht, ob sie noch dort war. Nein, sie
erinnerte sich nicht an die Leute, die weiter oben an der Straße gewohnt hatten
und vom FBI verhaftet worden waren. Sie hatte damals noch in Texas gelebt und
hatte von dem Fall nicht einmal gehört. Gab es in der Nachbarschaft jemanden,
der sich vielleicht erinnern könnte? Da war der alte Cal. Cal war in den frühen
sechziger Jahren bei einem Unfall im Hafen schwer verletzt worden. An guten
Tagen saß er in seinem Rollstuhl auf dem Bürgersteig und verbrachte den Tag in
Gesprächen mit den Passanten. An nebligen Tagen wie heute fand man ihn meistens
in dem Familienauto, einem Dodge, den seine Frau am Randstein geparkt hatte.
    »Cal ist eine gute Seele«, fügte die
Frau hinzu. »Er schreibt Briefe, beschwert sich beim Bürgermeister über
Mißstände im Viertel. Die Menschen mögen ihn; sogar die Junkies und die Bullen
haben ihn gern. Das Auto? Das ist schon seit Jahren nicht mehr gefahren worden.
Es steht nur da, und die Straßenreinigung fährt drum herum. Niemand schreibt je
einen Strafzettel aus.«
    Wenn ich so etwas höre, wächst mein
Vertrauen in die Stadt wieder, die mir oft kalt und unmenschlich erscheint. Ich
dankte der Frau, kaufte einen Hershey-Riegel — die Notration Schokolade in
meiner Tasche neigte sich dem Ende zu — und verließ den Laden, um zu erfahren,
was Cal mir erzählen konnte.

22
     
    Der schäbige braunweiße Dodge mit den
ausladenden Seitenflügeln stand drei oder vier Türen von der letzten Adresse
des Kollektivs entfernt. Zwei alte Männer hatten ihre Arme auf sein Dach
gestützt und sprachen mit jemandem im Wageninneren. Beide waren in warme Mäntel
gehüllt, um die feuchte Kälte abzuhalten; einer trug sogar eine Strickmütze mit
Ohrenschützern. Ich trieb mich hinter ihnen auf dem

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