Tote Pracht
Nachrichtensprecherin vom Fernsehen? Es ging
da um eine Nachforschung über die Vergangenheit ihrer Mutter, Jenny Ruhl. Ist
schon ein paar Jahre her...«
»Natürlich erinnere ich mich. Was ist
mir ihr?«
»Sie ist am Rande in einen Fall
verwickelt, den ich bearbeite, und ich muß einen Blick auf deinen
Ergebnisbericht werfen. Goodhue ist damit einverstanden«, fügte ich hinzu, da
ich nicht sicher wußte, daß sie etwas dagegen hatte. »Aber sie ist zu
beschäftigt, dich anzurufen, also beschloß ich, es selbst zu tun.«
»Komisch.«
»Wieso?«
»Sie rief am Dienstag morgen an und bat
um eine Kopie des Berichts. Die hat sie dann am gleichen Nachmittag abgeholt.«
Also belog mich Goodhue ebenso wie
Ross. Aber warum sollte ich nicht wissen, daß sie den Bericht bereits hatte?
Ich sagte: »Und jetzt kann ich sie nicht erreichen. Ich weiß, daß du mir ohne
ihr Einverständnis strenggenommen keine Kopie geben kannst. Kann ich vielleicht
trotzdem einen Blick reinwerfen?«
»Das hängt davon ab, wofür du den
Bericht brauchst.«
Ich erzählte ihm vom Fall Hilderly und
betonte, daß wir unbedingt herausfinden mußten, ob Perry unter Druck oder
unangemessener Einflußnahme gestanden hatte, als er die Abschrift des
Testaments erstellte.
»Also, ich sehe keinen Grund, warum ich
dir keine Kopie geben sollte, nachdem du sagst, daß Jess Goodhue damit
einverstanden ist. Ich komme aber erst heute nachmittag dazu. Wenn du willst,
gebe ich ihn gegen vier bei All Souls ab.«
Als er All Souls erwähnte, fiel mir
ein, daß Wolf — der die oft niederschmetternden Nachrichten in der
Morgenausgabe bewußt vermied — vermutlich gar nicht wußte, was letzte Nacht
dort vorgefallen war. Als ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, war ich
wieder voller Zorn gegen den Heckenschützen, und als Wolf sein Bedauern darüber
ausdrückte, daß Hank angeschossen worden war, hörte ich die gleiche Wut in seiner
Stimme.
Bevor ich auflegte, fiel mir eine
letzte Frage ein. »Ich nehme an, du erinnerst dich nicht mehr, was du über
Goodhues Mutter herausgefunden hast?«
»Nein, leider nicht. Mein Gedächtnis
ist auch nicht mehr das, was es einmal war.«
Ich dankte ihm und legte auf. Die
Telefonzelle wurde sofort von einer jungen Frau mit roten Augen und
verschmierter Wimperntusche übernommen. Jemand hatte einmal zu mir gesagt, daß
im Justizpalast mehr Tränen vergossen werden als in irgendeinem anderen
öffentlichen Gebäude oder Privathaus in San Francisco, und nicht einmal bei
Beerdigungen wird dieser Rekord gebrochen. Ich habe nie bezweifelt, daß das
wahr ist.
Um elf Uhr dreißig saß ich in einer
ruhigen Ecke im Mikrofilmraum der Zentralstelle der Stadtbücherei an einem Monitor.
Geisterhafte Bilder flimmerten vor meinen Augen, als ich auf der Suche nach den
Artikeln über den Bombenanschlag von Port Chicago die Bänder abspulte, die ich
bestellt hatte. Beim Durchsehen der Inhaltsverzeichnisse der Zeitschriften
hatte ich festgestellt, daß es eine Fülle von Berichten über dieses Ereignis
gab. Eine der großen, bundesweit verbreiteten Zeitungen hatte sogar einen
langen Artikel über den Fall geschrieben unter dem Titel ›Plan der
Revolutionäre kollidiert mit der neuen Strategie der Regierung, Gewalt mit
allen Mitteln zu bekämpfen‹.
Was ich aus diesem Bericht erfuhr,
überraschte mich. Taylor und Heikkinen waren die einzigen Angeklagten in dem
Prozeß gewesen; der Staatsanwalt hatte strenge Strafen gefordert, um ein
Exempel zu statuieren, und beide wurden zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren in
einem Staatsgefängnis verurteilt — Taylor war nach McNeil Island in Washington
State gekommen und Heikkinen in eine Strafanstalt in Alderson, West Virginia.
Die Straftat — Vorbereitung eines Bombenanschlages auf eine militärische
Einrichtung — hatte einen ernsteren Hintergrund, als ich angenommen hatte: Wenn
es ihnen gelungen wäre, die Bomben zu installieren und zu zünden, dann hätte
dieser Anschlag mehrere Menschenleben gefordert.
Aber was mich am meisten überraschte,
war die Identität der Hauptzeugin der Anklage. Jenny Ruhl hatte die
vernichtende Aussage gemacht, »daß die Gruppe um der Sache willen, für die sie
kämpfte, das Opfer von Menschenleben in Kauf genommen oder sogar für
wünschenswert gehalten« habe.
Libby Ross hatte behauptet, daß die
Gruppe vor allem endlose, intensive Gespräche geführt habe. Offensichtlich war
die Rhetorik mit ihnen durchgegangen. Obgleich in den Prozeßberichten
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