Tote Pracht
und selbstbewußten Kind wie Hank
kamen.
»Halt die Ohren steif«, sagte ich,
womit ich mich selbst ebenso wie Anne-Marie meinte. »Ich melde mich später
wieder.«
Wenn ich an einem Fall arbeite, zieht
es mich oft zu den Orten, wo die Schlüsselereignisse stattgefunden haben,
selbst wenn der eigentliche Vorfall lange Jahre zurückliegt. Das Bedürfnis,
diese Örtlichkeiten zu sehen, ist mehr oder weniger instinktiv; oft weiß ich
nicht einmal, wohin ich gehe, bis ich dort ankomme. Wie unwissenschaftlich und
unlogisch dieses Vorgehen auch sein mag, habe ich doch gelernt, diesen Impulsen
zu vertrauen. Und wenngleich ich nur selten über ein übersehenes Detail
stolpere oder eine geniale Einsicht habe, geben mir die Orte doch ein besseres
Gefühl für die betroffenen Personen und ihre möglichen Motive. Nachdem ich
nichts Besseres zu tun hatte, bevor ich Wolfs Bericht bei All Souls abholen
konnte, beschloß ich herauszufinden, was von der Gegend vor zwanzig Jahren noch
geblieben war.
Es hatte keinen Sinn, nach Port Chicago
hinauszufahren; man würde mich sowieso nicht in das Waffenlager hineinlassen,
und außerdem erschien mir der Ort der Festnahme auch nicht relevant. Auch nach
Berkeley brauchte ich nicht zurückzukehren; ich kannte die Gegend, und sie war
auch nicht der eigentliche Mittelpunkt der Geschichte. Das Bundesgebäude, in
dem der Prozeß stattgefunden hatte, war nur zwei Häuserblocks von der
Bibliothek entfernt. Aber ich wußte, wie Gerichtssäle aussahen, und konnte mir
die trockene Verhandlung gut vorstellen.
Nach den Zeitungsberichten, die ich
gelesen hatte, war das Beweismaterial der Staatsanwaltschaft erdrückend:
Ergreifung am Tatort, Revolver, Bomben, Zündstoff, Pläne der militärischen
Anlage und Diagramme für die Verteilung der Bomben; Augenzeugenberichte der
festnehmenden Beamten; und die offensichtlich unerschütterliche Aussage von
Jenny Ruhl. Die Hauptzeugin der Anklage ›sah‹ nach dem Bericht eines Reporters ›ihre
ehemaligen Kameraden kein einziges Mal an. Sie zeigte weder Schuld noch
Nervosität im Zeugenstand und sprach mit ausdrucksloser Stimme. Als sie den
Gerichtssaal verließ, schaute sie sich nicht um‹. Angesichts ihrer Aussage war
die magere Verteidigung zusammengebrochen.
Ich konnte verstehen, was Ruhl
vermutlich dazu veranlaßt hatte, gegen ihre früheren Freunde auszusagen. Wie
bei vielen Möchtegern-Revolutionären war ihr Engagement in der Gruppe eine
Rebellion gegen ihre konservative Erziehung gewesen. Aber die Aussicht auf eine
mehrjährige Haftstrafe nach ihrer Festnahme konnte sie wohl nicht ertragen.
Außerdem hatte sie eine Tochter, die von ihr abhängig war; ein Kind, das sie im
Fall ihrer Verurteilung lange Zeit nicht mehr sehen würde. Der Staatsanwalt
erkannte wohl, daß Ruhl das schwächste Glied der drei war, und hatte sie zu
einem Abkommen überredet.
Ja, ich konnte mir gut vorstellen,
warum Ruhl für die Staatsanwaltschaft ausgesagt hatte. Aber ihr Selbstmord
wenige Wochen nach der Verhandlung verblüffte mich. Wenn sie wegen Jessica ihre
Loyalität und ihren eigenartigen Ehrenkodex geopfert hatte, warum ließ sie dann
das Kind mutterlos und ohne jede finanzielle Unterstützung zurück?
Darauf gab es keine Antwort — und
vielleicht würde es nie eine Antwort darauf geben.
Das untere Fillmore-Viertel — westlich
vom Civic Center und der Van Ness Avenue — gehört zu den Stadtteilen, die ihr
Gesicht verändern. Die Schweinefarmen, die hier am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts zu finden waren, sind ebenso verschwunden wie die Jazzclubs aus
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die heruntergekommenen Gettos der
jüngsten Vergangenheit. Auch Winterland — das ehemalige Eislaufstadion, das in
den sechziger Jahren zum Mekka für drogensüchtige, musikbegeisterte Hippies
wurde — gibt es nicht mehr. Jetzt herrscht hier eine ungute Mischung urbaner
Kulturen: Luxuriöse Eigentumswohnungen neben schäbigen, dreistöckigen,
viktorianischen Häusern; schicke Restaurants und schmierige Imbißbuden; an
einer Ecke ein Weinladen, an der anderen ein Spirituosengeschäft mit
Billigangeboten.
Das Haus an der Hayes Street, wo die
Gruppe gleich nach ihrem Umzug nach San Francisco gelebt hatte, stand nicht
mehr; der ganze Block war abgerissen worden, um Platz für ein Hochhaus zu
schaffen. Aber am Ende der Straße entdeckte ich Jude’s Liquors, wo D. A. Taylor
ab und zu ausgeholfen hatte. Ich parkte den MG und folgte einem Sperrholzweg um
den Bauplatz
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