Tote Pracht
betont
wurde, daß es gute Gründe gegeben habe, Teile von Ruhls Aussage zu bezweifeln,
sah ich die Geschichte nun doch in einem anderen Licht. Wenn die Mitglieder der
Gruppe bereit gewesen waren, unschuldige Fremde zu töten, welche Verbrechen
hatten sie dann noch geplant oder sogar durchgeführt? Was würde ich finden,
wenn ich weiterforschte? Und war das nach so langer Zeit überhaupt nötig? Es
gab Leute, die unter der Wahrheit zu leiden haben würden: Jess Goodhue, D. A.
Taylors Frau und seine Kinder. Vielleicht wäre es gnädiger, die Vergangenheit
ruhen zu lassen, nachdem die meisten Menschen, die in den Fall verwickelt
gewesen waren, nicht mehr lebten.
Aber schon während ich noch darüber
nachdachte, wußte ich, daß ich weitermachen würde. Tom Grant war ermordet
worden, und mein Gefühl sagte mir, daß die Kräfte, die zu diesem Mord geführt
hatten, von der Vergangenheit in Bewegung gesetzt worden waren. Grant war zwar
kein erfreuliches Exemplar der Gattung Mensch gewesen, aber wenn es um
Mordopfer geht, differenziert ein Detektiv nicht zwischen guten und bösen. Ich
mußte weitermachen, weil McFate diese Spur offensichtlich nicht verfolgen
wollte.
Meine Notizen füllten bald mehrere
Seiten: Der chronologische Ablauf der Ereignisse, Schlüsselsätze der Zeugen,
Adressen, Namen. Hilderly wurde nur einmal erwähnt, und zwar bei einer
Auflistung von Leuten, die im Verdacht standen, ehemalige Mitglieder der Gruppe
zu sein; die Namen Andy Wrightman und Thomas Y. Grant tauchten nirgends auf.
Nachdem ich den ersten Satz Filme
durchgesehen hatte, ging ich nach nebenan und suchte in den Nachschlagewerken
und Katalogen nach Artikeln in der radikalen Presse von damals.
Dann kehrte ich in den Mikrofilmraum
zurück und sah einige Bänder mit Berichten der Berkeley Barb durch, die
in den sechziger Jahren bundesweit gelesen wurde. Ein Journalist der Barb schrieb von Gerüchten (die er vermutlich selbst in die Welt gesetzt hatte) über
eine geheimnisvolle vierte Person‹ bei dem Waffenlager, die Taylor ihre Waffe
in die Hand gedrückt habe und verschwunden sei, als die Beamten der
Bundespolizei auftauchten. ›Eine Falle!‹ verkündete die Schlagzeile.
›Jenny Ruhl, Verräterin‹ lautete der
Titel des Berichtes, der unmittelbar nach Jenny Ruhls Aussage im Prozeß
erschienen war. Sie wurde als ›verzogene Tochter reicher Schweine aus Orange
County‹ beschrieben, ›zu empfindsam, um ihrem Bruder und ihrer Schwester bei
deren Verhandlung beizustehen!‹ Ein anderer, weniger freundlicher Reporter
meinte, sie sei total verkorkst und habe vermutlich ›schon lange Spitzeldienste
geleistete In ihrer Todesanzeige ein paar Wochen nach dem Prozeß wurde sie dann
als ›Märtyrerin der Bewegung‹ und ›Opfer der Bourgeoisie‹ bezeichnet.
Offensichtlich war es der Barb ebensowenig wie mir gelungen, Ruhl
einzuordnen.
Nachdem ich meine Nachforschungen in
der Bibliothek abgeschlossen hatte, gab ich die Mikrofilme zurück und verließ
das Gebäude, um meine Suche nach der Vergangenheit fortzusetzen. Aber zuerst
suchte ich eine Telefonzelle und rief im Krankenhaus an, um zu erfahren, wie es
Hank ging. Immer noch keine Veränderung. Schließlich erreichte ich Anne-Marie
in der Pflegeabteilung der Intensivstation; sie klang müde und weit weg, und
als ich anbot, später vorbeizukommen und ihr Gesellschaft zu leisten, meinte
sie, es sei besser, wenn ich nicht käme.
»Seine Lunge war kollabiert, und er hatte
noch weitere innere Verletzungen. Sie müssen vielleicht noch mal operieren, und
wenn es so weit kommt, dann brauche ich alle meine Selbstbeherrschung. Ich
könnte niemanden ertragen, der mehr als berufsmäßiges Mitgefühl zeigt.
Außerdem«, fügte sie hinzu, »sind seine Eltern hier. Und du kennst sie ja.«
»Ich nehme an, sie geben mir die Schuld
daran, daß man ihn angeschossen hat.«
»Sie haben da eine lange Liste. Außer
Gott steht praktisch jeder darauf und vielleicht sogar er.«
Ich hatte diese Reaktion mehr oder
weniger vorhergesehen. Die Zahns haben zu lange in der reichen Welt der
Oberschicht gelebt und werden mit realen Problemen nicht mehr fertig. Nachdem
ihr einziger Sohn angeschossen worden war, mußte man dringend jemandem die
Schuld zuweisen; Anklagen und Beschuldigungen waren hervorragende Mittel, um
gegen Angst und Ohnmacht anzukämpfen, und beide konnten mit diesen Waffen
ausgezeichnet umgehen. Ich hatte mich oft gefragt, wie zwei so verschlossene
und unsichere Menschen zu solch einem offenen
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