Tote Stimmen
vorbei wie eine glatte Murmel.
Unter hysterischem Schluchzen war sie aufgewacht. Das gleiche Gefühl hilfloser, panischer Frustration hatte sie die letzten drei Tage nicht verlassen und war immer stärker geworden. Jetzt fühlte sie sich, als würde sie explodieren.
Der Fernseher flimmerte ohne Ton, Mary beugte sich vor und schlang die Arme um ihre Beine. Den Kopf auf den Knien, zitterte sie am ganzen Körper.
Sie schaltete das Licht an.
Als Mary in das Gästezimmer von Katies Wohnung eingezogen war, hatte sie nicht viel mitgebracht. Es gab hier sehr wenig Platz, aber das war in Ordnung. Ihre Besitztümer bestanden aus wenig mehr als ihren Kleidern, einer Handvoll Bücher, ihrem Körper und einer Schachtel mit persönlichen Dingen, die sie immer bei sich haben musste.
Auf allen vieren wühlte Mary in ihrem Zimmer in der Schachtel, bis sie fand, was sie suchte, ging dann in die Küche und nahm eine kleine Schüssel. Mit langsamen Bewegungen, als sei sie sediert, brachte sie die Sachen ins Wohnzimmer. Durch die Tränen sah sie alles um sich herum verschwommen.
Denken war fast unmöglich, aber …
Zieh die Vorhänge zu.
Sie hörte die Leute draußen auf der Einkaufsstraße, einen Stock tiefer lachten sie und machten Witze; sie schloss sie alle aus und setzte sich auf die Couch. In der Stille hörte sie sich selbst weinen.
Mach den Beutel auf.
Es war einmal vor langer Zeit, so wie alle Geschichten beginnen, da war dies das Nähmäppchen ihrer Mutter gewesen. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte es sie fasziniert. All die geheimnisvollen Stoffschichten mit Schlitzen, die als Verstecke für Nadeln und aufgewickelte Fadenspulen in vielen Farben dienten. Als ihre Mutter schließlich auszog, hatte sie es nicht mitgenommen, und als Teenager hatte Mary den Inhalt weggeworfen, zusammen mit all den anderen Sachen ihrer Mutter, die sie nie mehr ansehen würde. Von der allerersten Pflegefamilie an hatte sie in dem Beutel die Dinge aufbewahrt, die sie wirklich brauchte.
Mary nahm die Desinfektionsflüssigkeit heraus und schüttete etwas davon in die Schüssel. Sie tauchte eine Rasierklinge ein, holte dann Wattebäusche und eine desinfizierende Creme heraus und legte sie für später auf den Tisch neben die Schüssel.
Tief atmen.
Das tat sie, aber eine Weile später zitterte sie immer noch. Hier und jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand verlassener und hoffnungsloser fühlen könnte als sie. Die letzten paar Tage hatte sie noch Widerstand geleistet. Aber jetzt ließ sie zu, dass das Gefühl in ihr aufstieg, statt es weiter zurückzudrängen. Es war wie ein Gift. Die Empfindungen entströmten ihrem Herzen und zwängten sich in verklumpten Gerinnseln durch ihre Arterien und Venen.
Und dann fing sie endlich an. Sie rollte ihr Hosenbein auf. Darunter hatte sie schon ein paar Narben, sich kreuzende weiße Linien zwischen den feinen, fast unsichtbaren Härchen, aber es gab noch genug Platz.
Weiter tief atmen.
Sie nahm die Rasierklinge heraus und schüttelte die Flüssigkeit ab.
Als der erste Schnitt zu sehen war und Blutströpfchen wie kleine Perlen hervortraten, war der stechende Schmerz die erste körperliche Empfindung des ganzen Tages.
Hinterher hatte Mary genau zwanzig neue Linien auf ihrer geschwollenen, warmen Wade, die zu pulsieren schien. Die Haut tat weh, aber auf eine schöne, angenehme Art und Weise. Sie reinigte die Wunden sorgfältig mit Desinfektionsmittel, bevor sie ihr Bein mit Creme einrieb. Immer noch sickerte Blut nach, und rote Rinnsale zeigten sich auf der weißen Haut, aber sie tupfte sie sachte mit Wattebällchen ab. Es machte nichts.
Sie war in Hochstimmung.
Überall war Blut. Es hatte sich in Lachen um ihren Knöchel herum auf dem glatten Boden gesammelt. Wo es heruntergetropft war, hatte es runde und sternförmige Kleckse gebildet und Schmierspuren, wo ihr nackter Fuß zur Seite gezuckt war. Die mohnrot gefleckten Papiertaschentücher, mit denen sie es abgewischt hatte, lagen zusammengeknüllt überall herum. Sogar diese Sudelei war befriedigend.
Manchmal war die einzige Möglichkeit, die Gefühle zu beruhigen, sie nach außen zu holen, um etwas Konkretes zu haben, dem sie sich stellen konnte. Marys Wade war zu einem Wandteppich der unerwünschten Emotionen geworden: des Ekels vor sich selbst, des Hasses, des Bedauerns und der Frustration. Jedes dieser Gefühle konnte sie klar erkennen, und jetzt, wo sie sichtbar waren, konnte sie sich um sie
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