Tote Stimmen
bestand.
Eddie hat das getan,
rief ich mir ins Gedächtnis.
Es ist nicht deine Schuld
.
Aber als sie mit verwirrtem und enttäuschtem Gesichtsausdruck zu spielen aufhörte, spürte ich, dass der Kloß in meiner Kehle vor Zorn immer fester wurde, bis ich kaum mehr atmen konnte. Bis ich genau wusste, was ich tun würde – mochte es nun richtig oder falsch sein.
4
Sonntag, 7. August
A ls sie am Computer fertig war, öffnete sie das Verlaufsprotokoll des Browsers und fing an, alle besuchten Seiten zu löschen. Obwohl ihre Mitbewohnerin verreist war, gehörte das Löschen unverzichtbar zum Ritual. Zuerst greift man in die bunte Welt des Internets ein, dann beseitigt man alle Spuren.
Sie löschte die Einträge der Suchmaschine für extreme Pornoseiten und entsprechende Chatrooms und dann die heruntergeladenen Seiten selbst. Ihre anonyme E-Mail-Adresse. Die Kopien der Chats aus den Sexforen, wo sie sich die Dinge hatte sagen lassen, die andere mit ihr machen wollten. Sie löschte alle Webseiten, die sie so eifrig gesucht und durchforscht hatte. All die Dinge, die auf ihre Weise den Ekel vor ihr selbst und den Hass auf alles, was sie war, dargestellt hatten.
Als es zu Ende war, ging sie durchs Zimmer zu der Stelle, wo sie ihre Kleider hingelegt hatte, und wusste doch, dass das bei weitem nicht ausreichte.
Eine halbe Stunde später saß Mary auf der Couch, hatte die Beine unter sich gezogen und sah fern. Welche Erleichterung das Internet ihr auch verschafft haben mochte, jetzt war sie schon wieder angespannt und fühlte sich schlimmer als zuvor. Es war, wie wenn man ein Furunkel aufstach. Wenn man es nicht schaffte, den ganzen Mist auf einmal herauszukriegen, wurde die Entzündung nur noch schlimmer.
Im Zimmer wurde es langsam dunkler, da das Tageslicht draußen abnahm, und der Widerschein vom Fernseher flimmerte über sie hinweg. Während die Bilder vor ihr aufleuchteten, starrte Mary durch den Bildschirm hindurch; Nachrichten, die ohne Ton keinen Sinn ergaben. Nur eine einzige Bewegung erlaubte sie sich: Mit einer Fingerspitze strich sie glättend über eine Augenbraue. Immer nur in eine Richtung. Wann immer sie eine weiter ausholende Bewegung machte, zuckte sie zusammen, als hätte jemand sie plötzlich und brutal aus tiefem Schlaf geweckt.
Es brachte nichts.
Eigentlich war es erstaunlich, dass man die Emotionen hinter seinen eigenen Taten und Stimmungen verstehen konnte und trotzdem weiter von ihnen beherrscht wurde. Mary wusste aus Erfahrung, dass sie in ein paar Tagen auf dies hier zurückblicken und sich kaum wiedererkennen würde. Sie würde eine Fremde sehen. Ein kleines, hilfloses Mädchen, das auf der Couch kauerte und nur noch mit verschränkten Armen ihre Ärmel umklammern und die Finger in die Haut bohren konnte. Irgendwann würde sich ihre Stimmung entspannen und der Griff sich lockern. Aber obwohl sie das jetzt schon genau wusste, war es ihr überhaupt keine Hilfe. In ihren depressiven Phasen sank sie in die schwärzesten Träume hinab. Keine Erinnerung an die wirkliche Welt konnte da helfen.
Ein Alptraum hatte diesen neuen Anfall ausgelöst.
Wie immer rührte er von ihrer Kindheit her, nur dass ihre Vorstellung alles übertrieb und die Einzelheiten vergrößerte. Die Gesichter waren zu Ovalen langgezogen, so dass die Zähne zum Raubtiergebiss wurden; die Finger waren auf die doppelte Länge angewachsen und zu Krallen verformt, eine ganz normale Küche in einem Vorstadthaus war zur Spülküche in einem Schloss geworden. Mary wurde entsetzt Zeugin, als ein riesiger, dunkelgrüner Vampir das Gesicht eines Bauern auf einen rotglühenden Amboss hinunterdrückte. Die Finger des Mannes versuchten verzweifelt nach etwas zu fassen, aber sie konnte nicht einmal seine Schreie hören, weil das zornige Bellen des Monsters, das ihn festhielt, zu laut war.
Wer hat dich hierhergeschickt? Wer hat dich geschickt?
Dampf stieg um ein einzelnes, weiß leuchtendes Auge herum auf, das weit aufgerissen war vor panischer Angst, und aus Marys Psyche stiegen Bilder auf von brennendem Fleisch, von verkohlten Skeletten, die um sie herum in der Luft hingen, von Blut, das zwischen den Pflastersteinen rann.
Wie verängstigt Mary auch war, sorgte sie sich doch am meisten um den kleinen unschuldigen Jungen, der hinter ihr stand. Sie versuchte immer wieder, ihm die Sicht zu versperren, um ihn zu schützen, aber sie schaffte es nicht, und das brachte sie zum Weinen. Bei jeder ihrer Bewegungen glitt sein Gesicht an ihr
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