Tote Stimmen
etwas davon auf meinen linken Arm und begann mich einzureiben. Es war nichts Erotisches daran, kam mir jedoch trotzdem irgendwie völlig unpassend vor. Aber ich ließ sie machen.
Währenddessen lehnte sich Choc auf seinem Stuhl zurück und sah mich an; und ich wusste, dass unsere Unterhaltung noch nicht zu Ende war. Ich wusste auch genau, wovon er sprach. Es ging um Eddie. Sosehr ich ihn jetzt hasste und ihn, wäre ich damals dabei gewesen, gern krankenhausreif geschlagen hätte, war ich nicht sicher, ob ich bei so etwas mitmachen wollte. Einerseits schon. Andererseits nicht.
Aber ich spürte, dass Choc mich beobachtete, und unter seinem scharfen Blick wurde mir alles, was ich fühlte, klarer.
Tori ging sorgfältig und langsam vor, damit auch alles richtig einmassiert war, bevor sie zum anderen Arm wechselte. Ich sah zu, wie sie sich konzentrierte, und mein Blick fiel wieder auf die Blutergüsse in ihrem Gesicht. Sie hatte die Beine untergeschlagen, die Schultern nach vorn gezogen und wirkte schmal, weil sie sich über meinen Arm beugte. Und sie sah kleiner aus denn je.
Ich hätte sie mit einer Hand hochheben können, und sie schien so langsam und gleichmäßig vorzugehen, dass ich es geschafft hätte, bevor sie es überhaupt merkte.
Als Tori fertig war, sah sie mich an und runzelte die Stirn. Dann fiel ihr etwas ein, und sie packte mich am Handgelenk …
»Komm. Ich führ dich rum.«
… als könne sie mich faktisch von dem Schuldbewusstsein wegführen, dessen Wirkung sie in mir spürte. Und vielleicht auch, um mich von Choc wegzuholen.
Zuerst zeigte sie mir ihr Zimmer.
»Mein Tagebuch. Meine Bücher. Hier hänge ich meine Kleider rein.«
Tori ging schnell vom einen Gegenstand zum nächsten weiter, während ich gewissenhaft die Sperrzone für Besucher beachtete. Ihr Zimmer roch nach dem Parfüm, das ich von ihr gewohnt war. Es war immer in einem hohen, schmalen Flakon mit einer Blume gewesen. Manchmal roch ich es selbst jetzt noch, wenn ich irgendwo langging, drehte mich um und erwartete oder hoffte dann, sie zu sehen.
»Hier kann ich mich waschen.«
Sie ging konzentriert das Zimmer durch. Und mir war klar, dass sie das alles mir zuliebe tat. Es war ein Versuch, mich abzulenken, denn sie wusste, wie ich mich fühlte. Wahrscheinlich hätte sie es nicht so ausdrücken können, aber selbst jetzt, wo sie mit der Welt im Clinch lag, dachte sie an andere und funkte mir durch die Störgeräusche eine beruhigende Nachricht zu.
Sie kam auf den Flur zurück.
»Und wie geht’s mit Emma?«
»Emma?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Im Moment nicht so gut.«
»Tut mir leid, das zu hören.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Aber wenn es mit ihr nichts wird, bin ja immer noch ich da.«
Das traf mich wie ein Faustschlag, und ich sagte mir sofort, ich solle es besser nicht ernst nehmen.
»Ach, komm.« Mit großen Augen fasste sie mich wieder am Handgelenk. »Ich weiß, was ich dir noch zeigen kann.«
Sie führte mich in den zweiten Aufenthaltsraum, der, in dem ich noch nicht gewesen war. Er sah fast genauso aus wie der andere: bequeme Stühle, Tische, Zeitungen. Aber hier war niemand. Tori führte mich zur anderen Seite des Raums hinüber. Sie setzte sich mit dem Rücken zu mir an das Klavier, das dort stand, und nachdem sie eine Haarsträhne hinters Ohr gestrichen hatte, bewegten sich ihre Finger erwartungsvoll und zum Spielen bereit über den Tasten.
»Was soll ich spielen?«
Und als ich sie da sah, vor einem Musikinstrument sitzend, das ich sie in besseren Zeiten hatte spielen sehen, machte das alles noch einen Tick intensiver.
»Ich weiß nicht«, brachte ich heraus. »Kannst du etwas von Nine Inch Nails?«
»Nein, du Dummkopf. Das hier kennst du ja.«
Sie fing an
The Heart Asks Pleasure First
zu spielen, das einzige klassische Stück, wie sie wusste, das ich mir anhören konnte.
Aber sie schaffte es nicht. Sie vergriff sich, traf hin und wieder zwei Tasten auf einmal, und je länger sie weiterspielte, desto öfter ging etwas daneben. Wenn ihre Finger ihr nicht gehorchten, runzelte sie vor Anstrengung die Stirn, dann sang sie mit geschlossenen Augen leise dazu, und ihre Stimme übernahm die Melodie. Aber auch das klang etwas schräg.
Ich hörte die gebrochene Musik. Selbst eingeschlossen an diesem Ort war sie arglos und frei von Hemmungen, aber ich sah die Frustration auf ihrem Gesicht, wenn sie ihre Fehler bemerkte. Ein wunderschönes Musikstück, das nur noch aus Stolpern und Stocken
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