Tote Stimmen
nicht erkennen. Das Wageninnere war dunkel, aber durch die Windschutzscheibe sah sie genug, um sicher zu sein, dass jemand drinsaß. Sie konnte sein Bein sehen. Eine Trainingshose.
O Gott, bitte nicht jetzt
. Die Panik überwältigte sie.
Noch nicht
.
Sie wollte den Anruf beenden, doch ihre Finger zitterten so sehr, dass sie zweimal, dreimal auf die Taste am Hörer drücken musste. Dann sah sie auf das Auto hinunter, beobachtete es durch den kleinen Spalt, den sie zu machen wagte, indem sie den Vorhang mit dem Finger ein Stück zurückschob.
Nichts.
Und dann das Brummen des Motors, das durch die Fensterscheibe leicht gedämpft war. Eine Sekunde später leuchteten die Scheinwerfer auf, der Wagen fuhr an und die Straße hinunter.
Mary sah zu, wie er verschwand, und ließ dann den Vorhang zurückfallen, der sich noch leicht bewegte und dann wieder an der alten Stelle hing.
Sie legte das Telefon vorsichtig und bedachtsam auf den Tisch. Es fühlte sich an, als fülle eine Unmenge von Sternen ihren Kopf und als seien alle ihre Gedanken verschwunden. Sie setzte sich auf die Couch, zog die Knie ans Kinn und schloss die Augen. In ihrem Inneren versuchte sie die Entschlossenheit und Standhaftigkeit wiederzufinden, über die sie vorher verfügt hatte. Aber stattdessen hatte sie nur das Gefühl, als umschließe Leder ihre Handgelenke und ihr Körper widersetze sich jeder Bewegung.
Nur ein Mann,
sagte sie sich, aber das stimmte nicht.
Sie wusste jetzt, dass sie sich getäuscht hatte. Es war ihr unmöglich, sich damit auseinanderzusetzen. Schon ein einziger Anruf konnte sie kleinkriegen. Wenn sie ihren Vater aus der Nähe sah und seine Stimme hörte … wäre es unmöglich. Etwas in ihrem Inneren würde bei dem Versuch der Selbstverteidigung zerbrechen, so zerspringen, dass niemand die Stücke je wieder zusammenfügen konnte.
Einen Moment danach beugte sie sich mit zitternder Hand hinüber und nahm ihr Buch vom Couchtisch. Es war früher etwas Schönes und ganz Besonderes gewesen für sie, aber jetzt fühlte es sich bei der Berührung trügerisch an.
Du bist zurückgekommen, um mich zu retten
. Ihr Vater hatte mit Vergnügen alles Gute, das sie darin sah, abgetötet, und trotzdem hatte sie nie die Hoffnung aufgegeben. Nicht einmal den Glauben. Wenn der nicht galt, dann war nichts mehr übrig.
Deshalb klammerte sich Mary jetzt daran: das Bild mit Ana und dem Messer, das sie über ihrer Brust gezückt hatte, errettet im letzten Moment, gerade als alles verloren schien. Sonst hatte sie nichts mehr. Sie konnte ihrem Vater nicht allein gegenübertreten, aber das würde sie auch nicht müssen. Ihr Mantra änderte sich; es war jetzt kein trotziger Schrei mehr.
Es wird jemand kommen
, sagte sie sich.
Immer wieder sagte sie sich das, bis die Worte ihren Kopf erfüllten.
Es muss jemand kommen.
21
Freitag, 2. September
U m acht hätte ich mit Sarah beim Essen sitzen sollen, aber ich saß in der Küche meines Elternhauses, an dem kleinen Holztisch an der Wand.
Mein Auto stand draußen neben dem Müllcontainer am Ende der geteerten gewundenen Einfahrt, neben den zu einem Bogen zusammengewachsenen Bäumen, auf die zu klettern ich jetzt zu groß war. Als ich angekommen war, hatte ich als Erstes überall nachgesehen, ob das Haus sicher war. Das schien gegeben. Soweit ich es beurteilen konnte, war niemand hier gewesen, seit Rob, Sarah und ich angefangen hatten auszuräumen.
Als Nächstes war ich in die Küche gekommen und hatte in den Schubladen unter der Arbeitsfläche ein Messer gesucht, das in meine Manteltasche passte.
Es war verrückt zu glauben, dass ich je in der Lage sein würde, das Ding zu benutzen, aber ich tat es trotzdem. Ich konnte sein Gewicht jetzt deutlich spüren, und in meinem Kopf hämmerte beharrlich die surreale Frage:
Was zum Teufel machst du da?
Die kurze Antwort war: nichts. Ich trank ein Glas Wasser und wartete ab, was geschehen würde. Es gab hier kein Telefon. Das war mir während der Fahrt eingefallen. Nach dem Tod meines Vaters war es abgemeldet worden. In seinem alten Büro stand ein Faxgerät, das noch zu kopieren schien, aber die Telefonfunktion ging nicht mehr. Was immer Toris Entführer in der E-Mail geschrieben hatte, hier würde er mich jedenfalls nicht anrufen.
Und das hatte wohl heißen sollen, dass ich ihn treffen würde.
Persönlich.
Ich versuchte die Panik zu unterdrücken, die mir das verursachte, und zu denken. So sorgfältig und rational zu denken, wie ich konnte.
Das Einzige,
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