Tote Wasser (German Edition)
Rhona blieb stehen und sah ihnen nach, um sicherzugehen, dass die beiden das Grundstück verließen, erst dann schloss sie die Tür hinter ihnen.
Sie zitterte. Das ist lächerlich, dachte sie. Was kann mir denn schon passieren? Sie ging ins Wohnzimmer und strich das Kissen des Stuhls, auf dem Sandy gesessen hatte, wieder glatt. Sie hatte das Gefühl, an die Luft zu müssen. Sie könnte nach Lerwick fahren und in den Fitnessraum des Clickimin-Freizeitzentrums gehen. Ein bisschen schwimmen vielleicht, wenn das Becken nicht voll tobender Kinder war. Doch sie war zu keiner Bewegung fähig. In der Regel hatte sie nichts übrig für Menschen, denen es an Antrieb fehlte und an Energie, doch jetzt überkam sie selbst eine solche Lethargie, dass sie glaubte, sofort einschlafen zu müssen, wenn sie sich nur hinsetzte. Im rückwärtigen Teil des Hauses lag die Küche, die durch wildwuchernde Ebereschen, die die Vorbesitzer zur Abwehr des Windes gepflanzt hatten, vor Blicken von der Straße geschützt wurde. Dort fühlte Rhona sich sicherer. Der Ausblick auf den Jachthafen, der sie damals veranlasst hatte, das Alte Schulhaus zu kaufen, sorgte nun dafür, dass sie sich fühlte wie ein Goldfisch im Glas. All die Polizisten und Schaulustigen konnten in ihr Haus sehen. Besser, sie blieb hier in der Küche oder in ihrem Arbeitszimmer, bis es dunkel wurde und sie einen vernünftigen Grund hatte, die Vorhänge zuzuziehen.
Sie machte den Küchenschrank auf, nahm eine Flasche Highland Park und ein Whiskyglas heraus, schenkte sich etwas ein, trank einen Schluck und spürte, wie der Whisky sie wärmte. Dann trug sie das Glas nach oben in ihr Arbeitszimmer und setzte sich vor den Computer. Einen Moment lang blieb sie reglos sitzen. Kein Whisky mehr, nicht bevor sie angerufen hatte. Sie brauchte einen klaren Kopf. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die sie auswendig konnte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang munter und erwartungsvoll. Wenn er sich gestört fühlte, dann zeigte er es jedenfalls nicht.
«Ja?»
Sie war bestimmt der letzte Mensch, dessen Anruf er erwartet hätte.
«Ich bin’s, Rhona Laing.» Jetzt war sie vollkommen ruhig. Das hier hätte auch ein Routineanruf bei der Arbeit sein können. «Ich fürchte, Jerry Markham ist wiederaufgetaucht, um uns heimzusuchen.»
Kapitel 8
I n der Bar in Voe aßen sie etwas zu Mittag. Noch so ein Fleckchen direkt am Meer. Noch so ein kleiner Jachthafen. Sandy fragte sich, wo sie nur plötzlich alle herkamen, all diese teuren Einrichtungen, in denen man sich um das Wohlergehen der Leute mit Segelbooten und Motorjachten kümmerte. Er konnte sich nicht erinnern, dass es in seiner Kindheit auch schon so viele davon gegeben hätte. Willow Reeves bestellte sich Suppe und frisches Brot. Sie aß mit Appetit, und das gefiel ihm. Er mochte keine Frauen, die ständig Kalorien zählten. In der Bar waren zwei Männer, die er kannte. Sie unterhielten sich über den Junggesellinnenabschied, der am Abend zuvor stattgefunden hatte. Wie bei solchen Anlässen üblich hatte die Gruppe einen Minibus gemietet und damit die Bars auf North Mainland abgeklappert, und alle hatten sich verrückt kostümiert. Diesmal hatten die jungen Frauen eine dreibeinige Kneipentour veranstaltet und Geld für einen wohltätigen Zweck gesammelt.
«Hast du Jen Belshaw gesehen? Die hat ja wohl echt nicht die Figur, um so viel nacktes Fleisch zu zeigen.» Die zwei kicherten wie Schuljungen.
Beinahe hätte Sandy sich in ihr Gespräch eingemischt und ihnen von den beiden jungen Frauen erzählt, die gestern Abend aus dem Bus geklettert waren, die Beine immer noch zusammengebunden, doch gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass das nicht sehr professionell gewesen wäre. Er hätte gern ein Bier gehabt, aber Willow trank Wasser, und so blieb er bei seinem Orangensaft. Sie saßen am Fenster, ein Stück von den beiden Klatschmäulern an der Bar entfernt.
«Ist für gewöhnlich ziemlich angespannt, Ihre Staatsanwältin, was?»
Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, Rhona Laing verteidigen zu müssen. Sie mochte ja eine Zugezogene aus dem Süden sein, aber jetzt wohnte sie hier auf den Shetlands, und nach der Sache auf Fair Isle hatte sie sich Jimmy Perez gegenüber sehr anständig verhalten. Dann fiel ihm ihr Sarkasmus wieder ein, die schneidenden Bemerkungen ihm gegenüber. «Sie ist nicht unbedingt leicht zu haben», sagte er. «Furchtbar pingelig, wenn’s um die Vorschriften geht.»
«Aber sie ist ehrlich?»
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