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Tote Wasser (German Edition)

Tote Wasser (German Edition)

Titel: Tote Wasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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ein Jahrhundert aus ihren Leben stahlen. Ich selbst sehe bestimmt auch aus wie eine Gestalt aus einer Sage, dachte er, mit meinem langen schwarzen Haar und unrasiert, wie ich bin, in der unförmigen schwarzen Jacke. Er spähte durch ein Fenster und sah eine Gruppe älterer Leute tanzen. Die Melodie war ihm bekannt, und einen Moment lang war er versucht hineinzugehen, eine der alten Damen, die an der Wand saßen, bei der Hand zu nehmen und sie durch den Raum zu wirbeln, damit sie sich wieder jung fühlte.
    Doch dann wandte er sich ab. Der alte Jimmy Perez hätte das wohl getan, vor allem, wenn Fran dabei gewesen wäre. Aber er war ein anderer geworden.

Kapitel 2
    J erry Markham blickte über die schmale Bucht, die sich vom offenen Meer landeinwärts wand. Hinter ihm lag das weite Hügelland, mit seinen Torfböden und dem vom langen Winter braunen Heidekraut. Vor ihm das Ölterminal. Vier Schlepper, so groß wie Trawler, zwei längsseits, einer vorne und einer achtern, schoben gerade die
Lord Rannoch
rückwärts an den Pier. Die Tanker wurden immer mit dem Bug zum Meer hin festgemacht, damit sie im Notfall sofort auslaufen konnten. Hinter dem ruhigen Wasser der Bucht sah er eine Industrielandschaft mit Öltanks, Bürogebäuden und dem wuchtigen Kraftwerk, das Strom für das Terminal lieferte und ins Netz der Shetlands einspeiste. Ein Leuchtfeuer fackelte das überschüssige Gas ab. Um das ganze Gelände zog sich ein hoher, mit Natodraht gekrönter Zaun. Sogar auf den Shetlands waren Orte wie das Terminal nach dem elften September besser abgesichert worden. Früher hatte man, um zum Terminal zu gelangen, nichts weiter gebraucht als einen Lichtbildausweis. Heute wurden alle Lieferanten überprüft und durch eine Sicherheitsschleuse geschickt, und jeder Transporter wurde kontrolliert und gekennzeichnet. Und selbst wenn die Tore dann geöffnet wurden, gab es noch eine weitere Sperre aus Beton, die einem die Zufahrt verwehrte.
    Jerry machte ein Foto.
    Über ihm setzte ein Flugzeug der Eastern Airways zum Landeanflug auf Scatsta Airport an. Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Betonpiste als Stützpunkt der Royal Air Force gedient. Jetzt wurde hier mehr Flugverkehr abgewickelt als auf dem Flughafen von Sumburgh, doch landeten hier keine Linienflugzeuge; aus dieser Maschine würden weder Touristen klettern noch Schüler, die vom College nach Hause kamen. Die Flüge hier hatten alle mit dem Öl zu tun. Markham beobachtete eine Gruppe Männer, die auf die Rollpiste sprangen. Sie waren durchtrainiert und hätten zu einem Rugbyteam oder einer Militäreinheit gehören können: Der gleiche Kameradschaftsgeist war ihnen anzumerken. Diese merkwürdige Art der Männerfreundschaft, die an ihm irgendwie vorübergegangen war. Von dort aus, wo er stand, konnte Markham zwar nicht hören, was sie sagten, doch er glaubte, dass sie Witze austauschten. Schon bald würden die Hubschrauber kommen und sie zu ihrem nächsten Einsatz auf die Bohrinseln bringen.
    Früher einmal hatten über achthundert Tanker jährlich das Rohöl von Sullom Voe aus nach Süden transportiert; heute legten nur noch zweihundert an der Anlegestelle an, und die
Lord Rannoch
hatte Rohöl von Schiehallion geladen, einem weiter westlich im Atlantik gelegenen Ölfeld. Die Felder in der Nordsee waren weitgehend erschöpft. Markham kannte alle Daten und Fakten. Er hatte gründlich recherchiert, aber er war auch auf den Shetlands geboren und aufgewachsen. Er war mit den Wohltaten des Öls groß geworden: mit den gut ausgestatteten Schulen und Sportstätten, dem Musikunterricht und den ebenen, breiten Straßen. Es war schwieriger und aufwendiger geworden, das Öl unter dem Meeresboden zu fördern, doch auf dem Gelände herrschte immer noch geschäftiges Treiben; er sah nichts, was auf den Niedergang des Terminals hindeutete. Einen Moment lang fragte er sich, ob die Shetlands sich wohl anders entwickelt hätten – ob
er
sich anders entwickelt hätte – ob alles unverdorbener wäre, wenn man das Öl nie entdeckt hätte. Und was die Zukunft wohl für die Inseln bereithalten mochte, wenn das Öl einmal vollständig erschöpft sein würde.
    Markham tat ein paar Schritte, um eine etwas andere Perspektive zu bekommen, und machte noch ein Foto. Hinter der Umzäunung wurde gerade eine Straße gebaut. Wohnmodule wie Blechbüchsen wurden auf Betonblöcke gesetzt. Neben dem alten Terminal wurde ein neues errichtet, und eine riesige rechteckige Mauer verbarg die Torfblöcke, die

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