Toten-Welt (German Edition)
durch wie ein Blitz, sondern wie ein einzelnes Lichtlein, das man von Hand zu Hand weiterreichte, indem man einen nach dem anderen anstieß und ihn zur Aufmerksamkeit erst zwingen musste.
So schlug der halb verweste Leichnam seine vom Blut der alten Frau verschmierten Zähne zwar bereits in den Nacken seines zweiten Opfers, als Maria gerade erst die Weinschale ausleerte; aber niemand sah es, da es nun mal die hinterste Person der Masse war und damit jemand, den keiner im Auge hatte und dessen Schicksal niemand bekannt machen konnte.
Noch ehe der Richter oder Nachrichter noch bewaffnetes Fußvolk eingreifen konnten, hatte der Pöbel den Richtplatz gestürmt und sie derart gepackt und umringt, dass es kein Durchkommen für mögliche Helfer gab und für sie selbst nicht die geringste Möglichkeit, zu entfliehen oder sich zu wehren. Dutzende Schläge und Fußtritte hatten sie bereits im Stehen getroffen, als man sie zu Boden riss, sich auf sie stürzte und sie zu Tode prügeln wollte. Von allen Seiten zerrte es an ihren Haaren, ganze Büschel wurden ausgerissen und in die Luft geworfen.
Sie rollte sich, da dies das einzige war, was ihr blieb, so igelig wie möglich zusammen, schützte ihren Kopf und den Bauch, der doch eine Leibesfrucht trug, und bot ihren Rücken dar. So richtig das gegen stumpfe Schläge sein mochte, so falsch war es für die Gesamtabwehr, denn nun begann der Mob zu denken.
Da man nichts mehr zu kneifen und zu reißen hatte, besann man sich, sie nicht planlos tot zu treten, sondern organisiert zu lynchen. Man ließ ihr etwas Raum, um sie packen und hoch zerren zu können, aber nicht ein Schlupfloch zur Flucht, drehte ihr die Arme auf den Rücken und stieß und zerrte sie zum Schafott.
Den Nachrichter sah Maria nicht mal noch hörte sie ihn. Menschenmauern versperrten ihr jeden Blick, und infernalisches Geschrei war alles, was ihre Ohren erreichte. Schon erblickte sie zu ihren Füßen die Stiegen, schon trieb man sie hoch. Einen der selbsternannten Henker sah sie die glühende Zange aus dem Feuertrog wuchten und schwenken, mit der die Mörder abermals hätten gerissen werden sollen. Nun schien es an ihr, sich dieser brutalsten aller Martern zu stellen.
Da, endlich, erreichte die andere Sensation den Kern des Pulks. Maria spürte, dass der Druck nachließ. Der mit der Zange war noch nicht abgelenkt, der näherte sich ihr gefährlich und wollte schon zustoßen und das erste Fleisch reißen. Unvermittelt kippte sie rückwärts nach hinten, da niemand mehr sie hielt und stieß. Die Ablenkung der anderen ließ den Zangenfolterer zögern und sich umschauen.
Maria nutzte diese Gelegenheit sofort. Die ersten Meter zum Rand des Schafotts legte sie kriechend zurück. Über den Rand ließ sie sich einfach fallen. Jetzt spürte sie die Folgen des Angriffsdrucks von Hunderten von Leibern. Ihr rechter Arm schien gebrochen. Ihr Kopf und ihr Rücken glühten vor Beulen. Die Knie waren blutig. Aber sie konnte laufen.
Nicht, dass ihre Flucht niemand bemerkt hätte. Einige versuchten sie zu greifen, aber halbherzig. Andere sahen kurz zu ihr und dann sofort wieder dahin, wo nun die Wut der Masse gebündelt war.
Viele kletterten aufs Schafott, immer mehr, um zu sehen, was Richtung Friedhof überhaupt los war. Es krachte wie ein Steinschlag, als das Richtgestell unter der Herdenlast von Leibern einbrach, und so entstand ein neuer Ort der Sensation.
Marias Weg war endgültig frei. Sie wusste, das würde nur für kurze Zeit sein, und rannte so schnell, wie sie es mit ihren zertretenen Füßen und zerschundenen Beinen und ihrem schlackernden Arm konnte.
Wieder machte sie einen Fehler, und das erst war der Missgriff, der ihr ewige Haarlosigkeit, eine Haut wie Leder und 500 Jahre Dunkelkerker einbringen sollte.
Sie hätte sich ja nun, da alles gescheitert schien, der Reichsstraße zuwenden und für immer davonlaufen können. Aber daran dachte sie nicht einmal. Sie erinnerte sich an das, was Hermann ihr gesagt hatte, und fasste einen verhängnisvollen Plan.
Die Schale mit dem Angstblut auf der Flucht davonzutragen die steilen Wege hoch zum Bergsattel und auf der anderen Seite wieder runter zum Kloster, rennend, ohne alles zu verschütten, das war aussichtslos. Also schlug sie sich durch zum gespreizten und gepflockten Leib des Kindesmörders, zog die schaumige rote Flüssigkeit aus dem Versteck unter seinen Schulter hervor, derweil um sie herum ein Geschrei und Gerenne wie Krieg tobte, und leerte die Schale in einem
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