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Toten-Welt (German Edition)

Toten-Welt (German Edition)

Titel: Toten-Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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Nachrichter hatte sich über den Kindsmörder gebeugt und schien seine körperliche Verfassung zu prüfen. Zu erkennen, wie weit er gehen konnte und wo Einhalt geraten schien, um die verhängte Strafe nicht abzukürzen noch zu verschleppen, das war das Geheimnis seines Berufserfolges, wie er Maria mehr als einmal unter Einfluss des Weins plaudernd gestanden hatte. Alles andere sei nur Mummenschanz.
    An der schnellen, kraftvollen Entschlossenheit, mit der er sogleich das Rad packte und anhob, konnte Maria ablesen, dass der am Boden lang gestreckte arme Sünder trotz aller Martern des Vortages in allerbester körperlicher Verfassung sein musste. Und das war wohl ihre Schuld und die der Mixtur, die sie ihm hatte eingeben lassen.
    Die Gefahr, ihn vor der Zeit zu verlieren, war für den Meister nicht gegeben, wohl aber die Gefahr, sich den Zorn der Masse zuzuziehen, weil der Delinquent sich immer wieder erholte und nicht verrecken wollte. Was Maria vorhatte, war damit nicht nur Liebesdienst für Hermann, sondern erst recht für den Meister.
    Ohne den Friedhofstoten, der unterdessen wohl nicht mehr allein ihr folgte, sondern der Witterung Hunderter von Menschen, wäre ihr Unterfangen völlig sinnlos gewesen. So setzte sie auf noch mehr Blutzoll, um vielleicht diese Welt, die aus den Fugen geraten war, wieder ganz einzurenken und viele oder alle zu retten.
    Indem sie sich gegen die dicht gedrängten Leiber warf, unter Armen hinweg tauchte und gar zwischen Beinen hindurch kroch, schaffte Maria es, sich bis ans Schafott durchzukämpfen.
    Einem reisenden Händler, der an seiner Kleidung zu erkennen war, aber auch an seinem erhöhten Standplatz direkt am Richtplatz, entriss sie auf dem Weg eine Trinkschale, kippte den Wein aus, erreichte das Zentrum des Geschehens in dem Moment, als der Meister das Rad zu maximaler Höhe erhoben hatte, so dass er sie wohl nicht sah, warf sich vor dem Kindsmörder auf die Knie, stellte ihm die Schale unter den Hals und stieß mit aller Gewalt die Klinge des Krummdolchs durch seinen Kehle.
     
    Der Moment wäre, was Hermanns Ansprüche betraf, wohl nicht besser zu wählen gewesen. Der Kindsmörder verzehrte sich vor Panik beim Blick auf das erhobene riesige Rad, das im nächsten Augenblick seinen rechten Arm zerschmettert hätte, wäre Maria nicht gewesen. Sein Blut, angereichert mit der größten Angst, die ein Mensch nur fühlen kann, quoll wie aus einer blubbernden Quelle in die Schale und warf dort dicke Blasen.
    Maria schien es, als sei die Zeit eingefroren. Gleich würde sich alles ändern. Gleich würden sich Hunderte Menschen in einer anderen Welt wiederfinden als der, die sie erwartet hatten, aber bis es so weit war, in dieser ganz kurzen Zeitspanne, gehörte ihr die Augenblickswelt, die sie gerade umgestaltete.
    Sie sah den Blick des Mörders auf sich ruhen und ihn wie erlöst dreinblicken, abgelenkt von der Angst, die er eben noch gefühlt hatte und fast wie verzückt. Der Meister wurde ihrer Gewahr, konnte das herabsausende Rad nicht mehr bremsen, aber verriss es leicht, so dass er das Ellenbogengelenk zerschmetterte und nicht den Oberarmknochen. Dem entrückten Blick des Geräderten tat diese Einwirkung keinen Abbruch. Er zuckte leicht, aber verlor schon das Bewusstsein. Sie hoffte, es möge für immer sein.
    Die Masse des versammelten Volkes schwieg für einen winzigen Moment. Es war ein Tiefpunkt aller Geräusche, der einen völligen Wechsel zwischen blutgeiler Begeisterung, Überraschung und dann monströser Wut markierte.
    Maria war die einzige, die wusste, was passierte und passieren würde. Sie handelte völlig in ihrem eigenen Sinne und war zugleich Beobachterin und kühl überlegende Planerin. Sie ließ den Krummsäbel fallen und schob die Schale unter den Körper des Entseelten in Sicherheit. Dann stand sie auf, erhob die Hände und bot sich ihrer Ergreifung dar in der Absicht, so wenig Wutschläge wie möglich auf sich zu lenken. Dass man sie packte und gefangen hielte, würde hoffentlich nicht lange dauern und keinen Schaden anrichten.
    Sie sollte sich bitterlich täuschen.
     
    Denn sie hatte die Stoßkraft der Veränderung falsch eingeschätzt. Was sie angerichtet hatte, geschah mit dem Strom: Alle Augen klebten am Richtplatz und erfassten, was sie tat, alle Aufmerksamkeit fraß sich an ihr fest; was der auferstandene Tote hinter ihr und auf der blinden Seite des Mobs anrichtete zwar schneller noch, als sie vermutet hatte, das geschah aber gegen den Strom und drang nicht

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