Toten-Welt (German Edition)
konnte tun, was man wollte. Regeln waren nicht nur außer Kraft gesetzt, es gab sie schlicht nicht mehr. Denn diejenigen, die ihre Einhaltung kontrollierten und strafend eingriffen, waren verschwunden.
Aber was war dann er, und was wollte er? Doch nichts anderes als letztlich Regeln durchsetzen, die es gar nicht mehr gab.
Er hielt dabei inne, sich durch die steckengebliebene Drehtür zu quetschen, und überlegte. Welchen Sinn machte es noch, diesen Helfert zu finden? Ging es darum, ihn aus dem Verkehr zu ziehen? Wäre es nicht gescheiter, das eigene Überleben zur einzigen Aufgabe zu machen, die sich überhaupt noch stellte?
Wäre Helfert der Endpunkt der Ermittlungen gewesen, wäre Mertel gar nicht hier angetanzt. Aber er hatte Grund zu der Annahme, dass er über Helfert an jemanden herankommen konnte, der dies alles in Gang gesetzt hatte und es vielleicht noch stoppen konnte. War das nicht den Einsatz des eigenen Lebens wert?
Mit diesem Gedanken im Kopf schob er sich weiter und presste sich durch einen Spalt in die Empfangshalle der PI. Er wusste zwar, heimlich, dass es so nicht stimmte. Er war kein selbstloser Typ, der sich für andere aufopferte. Was ihn trieb, war die eigene Neugier – und der Ehrgeiz, diesen Fall noch aufzuklären, denn es wäre wohl der letzte seines Lebens. Aber auch das waren wohl ernsthafte Gründe, um weiterzumachen.
Zu suchen hatte er hier eigentlich nichts mehr. Die Ermittlungsakten im Fall Helfert kannte er auswendig. Und dass die Station hier verwaist war, wusste er von seinen Versuchen von unterwegs, die Zentrale anzufunken.
Aber vielleicht irrte doch noch ein lebender Kollege durchs Gebäude oder hatte sich in einem der Zimmer verschanzt. Außerdem brauchte er Waffen. Beide Pläne durchzuziehen, würde schnell gehen. Eine Lautsprecherdurchsage, ein zentrales Anfunken aller Piepser – und danach ein Einbruch in die Waffenkammer.
Aber für beide Pläne gab es ein Hindernis, und das hockte drei Zentner schwer mitten in der Leitstelle und glotzte ihm stier entgegen, als er herein polterte. Mertel wusste, das konnte nicht sein. Die Gänge waren übersät mit Leichen uniformierter Kollegen. Alle hatten sie ein Loch in der Stirn. Wieso sollte ausgerechnet der fettgefressene, kampfesuntüchtige Hauptwachtmeister Bruno Vorgereit überlebt haben? Aber da hockte er, scheinbar unverwundet, sagte nichts, aber blockierte alle Einsatzwege.
Mit dumm stellen war Mertel bisher immer am weitesten gekommen.
„Was ist hier passiert, Bruno?“, fragte er deshalb, obwohl es doch offensichtlich war.
„Ich glaube, die Scheiß-Welt ist untergegangen“, antwortete Bruno und klang geschockt, aber normal. Normaler als die Frau, die wiederum normaler gewirkt hatte als die sprachlosen und wie ferngesteuert herumirrenden Bestien. „Vielleicht das jüngste Gericht oder so was.“
„Und wieso bist du noch hier?“
„Weiß nicht, wohin. Vielleicht kommt auch jemand wieder.“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Du bist auch gekommen. Bist du noch normal?“
Während er das fragte, zog er seine Dienstpistole.
„Falls du mich fressen willst... Drei der Löcher da draußen hab ich gestanzt.“
Er fuchtelte mit der Waffe und deutete damit auf seine eigene Stirn und dann auf die Mertels.
„Ich will dich nicht fressen, Bruno. Ich bin noch der Alte. Steck das Ding weg.“
„Der Chef hat auch normal gewirkt. Und dann hat er der Traudel Schurig ein Ohr abgebissen. Einfach so. Hast du die Blutpfütze an der Kellertreppe gesehen?“
„Ich hab hier viele Blutpfützen gesehen.“
Bruno nickte, verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen und fing plötzlich an zu weinen.
„Scheiße. Tut mir leid, Mann.“
„Kein Problem.“
Mertel wurde unwohl. Heulerei konnte er nicht ab. Lieber wäre es ihm gewesen, er hätte Streit mit ihm angefangen.
„Du verstehst nicht. Mir tut’s leid, dass ich...“
„Was?“
„Ach, vergiss es. Als es losging, hab ich mich selbst in eine Arrestzelle gesperrt. Bis es vorbei war. Deshalb in ich noch hier.“
Mertel verzog angewidert das Gesicht, aber bemühte sich tröstend zu klingen, als er antwortete: „Schon gut, Mann. Ansonsten wärst du jetzt auch hinüber.“
Bruno schluchzte auf, nickte und gewann sichtlich an Fassung. Mit frei geräusperter und neu erstarkter Stimme fragte er:
„Wie hast du überlebt?“
„In meiner Wohnung.“
„Verstehe.“
„Nein, ich hab mich da nicht versteckt. Ich hab schlicht alles verpennt.“
„Dein
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