Toten-Welt (German Edition)
noch mehr in Aussicht gestellt und sie damit zu roboterartigen Befehlsempfängern gemacht. Alle anderen, die deswegen heraufstiegen, so wie jetzt wohl der Hase, waren abgewiesen worden.
Inzwischen kam schon kaum noch jemand. Auch in der Daseinsform, die Wicca ihnen aufgezwungen hatte, funktionierte offensichtlich die Ausbreitung von Nachrichten und Gerüchten, wenn auch nicht mit der Konsequenz, dass es zu Zusammenrottungen und Aufständen kam, denn damit hatte Amelie zunächst gerechnet. Aber vielleicht ließ ganz einfach, so wie die Denkfähigkeit, bei diesen Biestern auch die Sucht irgendwann nach.
Amelie verließ ihren Ausguck und durchquerte den Kemenaten-Hauptsaal zum Treppenturm, um nach Wicca zu suchen und sie zur Rede zu stellen. Plötzlich fiel ihr etwas ein: der Morgen nach ihrer ersten Nacht hier – der saublöde Scherz mit dem Abort-Erker. Die Katze hatte sie zu einer Wand geführt, die wie künstlich eingezogen aussah. Der Wehrgang war vermauert worden und war es noch. Aber warum? Und was lag dahinter?
Auf dem Weg über den Hof zu jenem Burgabschnitt mit dem Aborterker besorgte sich Amelie im Geräteschuppen, den Bergenstroh oder wer auch immer neben der Wachnische am Haupttor zur Vorburg angelegt hatte, eine Spitzhacke. Ihr Blick fiel auf Hammer und Meißel. Vielleicht noch besser. Sie raffte zusammen, was sie tragen konnte, misstrauisch beäugt von zwei der Süchtigen, die über dem Tor Wache schoben.
Für einen Moment war ihr noch mal nach davonlaufen. Aber der Gedanke verdrängte sich von selbst. Von Anfang an, vom ersten Moment nach Betreten dieser Burg, hatte sie gefühlt, dass ihr Schicksal mit den alten Mauern verknüpft war, und das weit zurück reichend in die Vergangenheit. Sie hätte auch jetzt nicht sagen können, woran sie das fühlte, aber der Schauder unbewussten Erkennens ging mit einer Gänsehaut einher, die ihr vom Nacken bis zum Steißbein lief und die Tränen in die Augen trieb. Da draußen gab es nichts für sie. Aber hier drin so ziemlich alles, wenn sie herausfand, worin Wiccas Geheimnis wirklich bestand.
Die alte Hexe war in Aufbruchslaune. Ihre Ausflüge in die Stadt in den letzten Wochen waren alle dienstlich gewesen, ultrakurz und von Angst begleitet. Mit ihrem Ledergesicht hatte sie es nicht gewagt, sich frei unter den Menschen zu bewegen, aber nun konnte sie das - sogar ohne ihre die Aufmerksamkeit vom Gesicht ablenkenden Perücken. Sie gedachte die Burg diesmal nicht zu verlassen, um ihre Säfte zu verspritzen und die Zivilisation in die Knie zu zwingen, denn dieses Werk schien ihr getan; was sie jetzt wollte, war die Heimatluft ihres alten Dorfes zu schnuppern.
Ihr war klar, dass sie nichts davon finden würde, nicht mal Bäume, die in ihrer Form an die alten Zeiten hätten erinnern können. Aber ein Resthauch der einstigen Witterung würde für eine übersensible Nase wie die ihre noch in der Luft hängen, da war sie sicher. Wie der Ort im Raum dalag im Wegverhältnis zur Burg und mit Blick zur Stadt – das mochte ihr das Gefühl zurückbringen, das sie hatte, bevor alles geschehen war: Bevor sie selbst den Keim es Verderbens gelegt hatte, indem sie ihren Spielfreund Hermann noch in Kindertagen dazu überredet hatte, Mönch auf Zeit zu werden. Der Bauernsohn mit den heilenden Händen hätte ohne die Ausbildung der Mönche nichts zu erwarten gehabt als ein entbehrungsreiches und kurzes Dasein auf den fürstbischöflichen Feldern. Noch heute stand sie vernunftmäßig zu der Entscheidung, ihn so bedrängt zu haben, auch wenn die junge Frau in ihr sie zum millionsten Mal verfluchte.
In der Entscheidung, die sie jetzt traf, überließ sie dem Mädchen Maria in sich das Wort – und sollte damit gleich dreifach falsch liegen.
Sie schlich sich durch eine ihrer Geheimpforten, die ihr schon als Heilerin des Fürstbischofs als heimliche Zugänge und Fluchtwege gedient hatten. So verpasste sie den Hasen, der sich dem Haupttor näherte, und damit dessen äußerst wichtige Beobachtung. Das war Pech Nr. 1.
Am Haupttor wäre sie aber auch Amelie begegnet und hätte bei ihrem Anblick, bewaffnet mit Gerätschaften zum Durchbrechen von Mauern, wohl ihre Dorf-Nostalgie-Pläne verschoben und eingegriffen. Pech zum zweiten, denn Amelie würde nun – wenn auch nicht gleich, so doch später im falschesten Moment - ungehindert etwas freilegen können, das sie niemals entdecken durfte und auch nicht gefunden hätte ohne Wiccas letzten Lebenshauch von Sentimentalität in ihren
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