Toten-Welt (German Edition)
ausgelaufen. Das vierte Schubfach war eine Attrappe oder versperrt.
Amelie hätte es schon fast aufgegeben, da der abweisende Raum sonst nichts versprach außer Regale voller Kartons, von denen sie wusste, was sie enthielten, nämlich Zehntausende von Wiccas Ampullen. In diesem Meer von Röhrchen und Fläschchen konnte allerlei versteckt sein, auch die Schlüssel zu den Bastionen. Letztlich trat mit der offen gelagerten Substanz für jeden, der über ein Chemie-Labor verfügte und analysieren konnte, auch das Geheimnis offen zutage. Amelie stand hier im Planungszentrum der Apokalypse.
Aber sie hatte nicht die Zeit, sich näher damit zu befassen. Die Soldaten konnten Retter sein, aber viel wahrscheinlicher war es in einer solchen Situation, dass sich Amelies Lage nach deren Einmarsch verschlechtern würde. Oder, da sie selbst zu den Infizierten und damit Überträgern gehörte, ihr der sofortige Tod drohte, wie immer die Tötung aussehen mochte. Amelie stellte sich ihre eigene Enthauptung vor.
Sie musste hier weg!
Der Entschluss war gefasst. Da blieb ihr Blick beim Vorbeistreifen über die erste geöffnete Schublade am obersten Blatt hängen, dessen Überschrift sie beim Öffnen zwar überflogen, aber nicht richtig an sich herangelassen hatte. Es war weißes Schreibmaschinenpapier mit sauberen Ausdrucken, Lucida Sans Typewriter, 12 Punkt, eineinhalb Zeilen Abstand – genau die Voreinstellung, mit der sie an Bergenstrohs Laptop für ihn gearbeitet hatte. Aber das waren keine ihrer Ausdrucke.
Plötzlich begriff sie: Das waren seine Texte, die er selbst verfasst hatte, als er noch tippen konnte. Ihre Aufregung über die Entdeckung ließ halb nach, denn da sie seine späteren Ergüsse kannte, erhoffte sie sich von allem, was davor war, auch nicht allzu viel. Die Überschrift, fett gedruckt und unterstrichen, widersprach ihrer spontanen Enttäuschung.
Sie verharrte eine Sekunde und noch eine, sah das Bild der eindringenden Soldaten vor ihrem geistigen Auge und rief sich in Erinnerung, dass sie bereits jetzt in der Falle saß oder vielleicht gerade ihre letzte Fluchtmöglichkeit verstreichen ließ, wischte den Gedanken weg und konzentrierte sich auf den Text. Die Überschrift lautete:
„Wie ich Maria Berkels Grab fand, wo es lag und was noch darin war“
Kapitel 10: Jagd auf die letzten Menschen
Wie ich Maria Berkels Grab fand, wo es lag und was noch darin war
Von Ronan Bergenstroh
Ich weiß, dass ich heute sterben werde.
Woher ich das weiß?
Weil mir vor genau sechs Tagen mein vor drei Jahren dahingeschiedener Schulfreund Rudolf W. begegnet ist. Ich starrte gerade auf eine weiße Wand, als es passierte. Die Erscheinung flimmerte über diese Wand als hätte jemand den Strahl eines alten Filmprojektors darauf gerichtet. Zu sehen waren nur Kopf und ein Teil der Schultern. Das Gesicht flackerte leicht über den Unreinheiten der verputzen Mauer, die darunter hervorstachen.
Hinter ihm sah ich, in einem Gesamtbildausschnitt von vielleicht einem Meter fünfzig auf einen Meter (ursprüngliches Fernsehformat) eine bezaubernde Blütenlandschaft. Wer will, mag jetzt ans Paradies denken, aber sich bloß nicht für mich zu früh darüber freuen, denn Rudolf starrte mich ernst an, immer finsterer bis äußerst missbilligend, und es drückte mir fast den Herzmuskel ab, als ich die Blüten plötzlich hinter ihm verdorren und den Garten zur Wüste dahintrocknen sah.
Der Geist selbst veränderte seine Hautfarbe vom Gesunden ins Blass-Bläuliche. Und dabei blieb es. Die Erscheinung mochte nach Erdenzeit vielleicht ein paar Sekunden gedauert haben, aber ich empfand sie als Jahrtausende während und begriff meinen toten Freund als Sinnbild dafür, was mir selbst bevorstand: tot sein, aber tot für ewig bei lebendigsten Gefühlen, die durch die modernde Leiche, in er man steckt, freilich gegängelt und gegeißelt werden, so lange der Zustand dauert.
Warum ist ausgerechnet er mir erschienen und nicht einer meiner verstorbenen Verwandten? Ich hätte da einen Bruder aufzubieten, beide Eltern, sämtliche Großeltern, diverse Cousins... – dass mir selbst kein langes Leben beschieden ist, passt also ins genetische Muster, denn Unfälle waren es nicht, die meine Mischpoke dahinrafften, sondern Krebs, Schlaganfälle und vorwiegend rätselhafte Erbkrankheiten, von denen es immerhin eine in ein medizinisches Lehrbuch schaffte.
Erst als ich von Maria Berkel erfuhr, dämmerte mir ein möglicher Zusammenhang. Und zugleich
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