Toten-Welt (German Edition)
wo.
Eigentlich hatte ihr Bergenstroh bereits indirekt den Hinweis geliefert. In einer seiner Abschweifungen hatte er ihr allerlei Festungsbautechnisches aus dem 16. und 17. Jahrhundert diktiert. Dass es diese Burg betraf, war erst in einem Nebensatz herausgekommen: Nachdem im 30jährigen Krieg die Verteidigungsanlagen der alten Festung regelrecht überrannt worden waren, hatten die damaligen Besitzer vor die ursprünglichen Gräben und Wälle zeitgemäßere Bollwerke vorgelagert. Diese sogenannten Ravelins glichen geometrischen Klötzen, hatten bis zu acht Meter hohe Mauern – und waren oben, auf den einstigen Kanonenstandplätzen, in der Gegenwart grasbewachsen.
Amelie fragte sich, ob Bergenstroh in seinen Diktaten verschlüsselte Hilfeschreie hatte absetzen wollen. Als Teile seiner Biografie machten die aus banalen Erinnerungen, historischen Abschweifungen, bitteren, aber oberflächlichen Beschwerden über Wiccas Gemeinheiten und kläglichem Gejammer über seine Krankheit bestehenden Textfragmente keinen Sinn.
Überhaupt war alles, was seit ihrer Ankunft passiert war, ein derartiges Durcheinander, dass die gelegentlichen Andeutungen über Amelies angeblich besondere Rolle in dieser Weltuntergangs-Groteske ebenso Teil eines raffinierten Verwirrspiels sein konnten wie aufgemotzter Blödsinn im grundsätzlichen Chaos wahnwitziger Zerstörungspläne.
Immerhin, trotz aller Widersprüche: Wenn es Wiccas Plan gewesen war, das Zeitalter menschlicher Zivilisation zu beenden, war ihr das erstaunlich schnell und effektiv gelungen. Amelie hatte praktisch tatenlos zugesehen und, wie sie nun langsam erkannte, den Niedergang sogar genossen. Ihre eigenen Probleme waren im Strudel der Apokalypse weggespült worden und für immer verschwunden.
Jetzt aber war sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwacht und würde mit ihren Fragen nicht mehr lockerlassen. Als sie Wiccas Praxis erreichte, gedachte sie, neben ehrlichen Antworten vor allem die Herausgabe des Schlüsselbundes zu fordern, an dem auch die Schlüssel für die Sperrgitter der Bastionen hingen.
Aber Wicca war nicht da. Überhaupt niemand schien die Burg mehr zu besetzen außer ihr selbst.
Als Amelie aus dem Fenstererker schaute, der von Wiccas Praxis hier im Palas aus sowohl einen recht umfassenden Blick auf die Stadt gewährte wie auf die hinteren Burg-Areale, sah sie zweierlei. Beides war alarmierend, aber das eine wenigstens noch weit weg: Auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt hatte sich eine gewaltige Zweibeiner-Ansammlung formiert und strömte bereits in die Stadt hinein und hindurch auf die Burg zu.
Das musste nicht heißen, dass sie hierher unterwegs waren, aber befremdlich und verstörend war die Masse an sich. Natürlich war auf die Ferne nicht zu erkennen, ob es Menschen waren, Süchtige oder Menschenfresser, aber was immer sie zusammengeführt hatte und nun antrieb, hatte einen Plan, und die Stoßrichtung der Absicht, die dahinter stand, zeigte direkt hierher.
Viel näher und gefährlicher indes war eine kleinere, aber hochgerüstete Gruppe, die durch den Hauptgraben herankam und bereits in die Schlupfpforte zur Vorburg eindrang. Da eine Zugbrücke zur Hauptburg nicht mehr existierte und das Tor weit offen stand, war die Burg damit so gut wie erobert, kampflos und mit Absichten, die so rätselhaft waren, dass es Amelie eine Gänsehaut über den Körper trieb.
Was sollte sie jetzt tun? Ihren Plan zur Erkundung der Bastionen konnte sie ohne Schlüssel sowieso vergessen und eine Rückkehr zum Bergfried nun auch. Die vielen Geheimnisse dieser Burg würden durch die Soldaten gelöst werden mit welchen Folgen auch immer – oder für immer ungelöst bleiben.
Es sei denn...
Amelie überwand angesichts des bevorstehenden Untergangs ihrer Burgwelt ihre Angst vor Wicca, trat aus dem Patientenbereich in die Tabuzone hinter dem Schreibtisch und öffnete die erste Schublade. Unglaublich, nicht versperrt!
Den Wust von Papierstößen hielt Amelie auf den ersten Blick für Patientenakten. Sie öffnete die nächste Schublade, fand weiteres Papier, aber ganz anders beschrieben. Die vergilbten Handschriften erinnerten sie an klösterliche Eintragungen aus dem Mittelalter, verschnörkelt bis zur Unleserlichkeit und in einer Sprache, die zwar deutsch klang, aber übersetzt und nach dem Übersetzen auch noch gedeutet werden müsste.
Sie ließ es bleiben, fand in der dritten Schublade ein wüstes Durcheinander gebrauchter und neuer Ampullen, teils noch halb gefüllt oder
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