Toten-Welt (German Edition)
Durcheinander der Schritte und raunenden Stimmen draußen erklangen nun auch knappe, befehlsartige Sätze. Niedermüller spitzte wieder durch den Schlitz in der Plane.
„Was passiert jetzt? Gibt es Verteidiger auf der Burg?“
„Nein. Ich schätze, die suchen nach Nebeneingängen.“
„Ist schon ulkig, oder? Eine einfache Zugbrücke aus dem Mittelalter stoppt eine hochgerüstete Armee des Atomzeitalters.“
„Das Atomzeitalter dürfte vorbei sein. Und wir sind auch keine Armee mehr.“
„Was dann? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?“
Niedermüller zuckte mit den Schultern und sah an Mertel vorbei.
„Wissen sie, was ich glaube? Dieser Oberst ist gar kein Soldat.“
Die kleine Regung in Niedermüllers Gesicht ließ Mertel lächeln. Volltreffer.
„Aber Sie sind einer.“
„Das ist eben der Ernstfall. Irgendwie muss es ja weitergehen.“
„Aber warum gerade hier oben? Warum säubert Ihr nicht die Stadt? Ich wette, es gibt noch jede Menge Menschen, die in ihren Wohnungen ausharren und auf ihre Befreiung warten.“
„Das kommt schon noch. Erst mal brauchen wir Waffen.“
„Und die sind hier oben oder wie?“
Niedermüller zuckte leicht mit den Schultern und nickte dann in Mertels Richtung.
„Und was wollen Sie auf der Burg?“
„Ich vermute den Ausgangsherd der Seuche hier oben. Und wenn das ein gezielter B-Waffen-Angriff war...“
Niedermüller rutschte auf der Holzbank herum und wurde sichtlich nervös.
„Haben Sie das dem Oberst gesagt?“
„Der Mistkerl hat meine Beweise konfisziert und mir eine Knarre an den Kopf gehalten. Deshalb glaube ich, er ist auf der selben Spur. Oder gehört dazu und will das letzte Häufchen Streitmacht in die Falle locken.“
„Scheiße.“
„Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“
„Nein. Mir fällt auch die Frage ein, warum ich Ihnen trauen sollte. Am besten...“
Er spähte wieder nach draußen, nervös und beinahe sprungbereit.
„Was? Stecken Sie den Kopf in den Sand?“
„Hauptgefreiter!“
Der Appell kam aus unmittelbarer Nähe, direkt am Hinterausstieg, aber ohne, dass ein Gesicht zu sehen gewesen wäre. Niedermüller warf Mertel einen Blick zu, und beide dachten das Gleiche: Hoffentlich hatte niemand gelauscht.
Der junge Schlacks beeilte sich, von der Ladefläche abzuspringen. Mertel hörte etwas, das klang wie „...brauchen jeden Mann...“
Sekunden später war Niedermüller zurück, machte ein Gesicht als sehe er Mertel zum ersten Mal und führte den Befehl, den er gerade erhalten hatte, so schnell aus, dass Mertel erst begriff, was geschah, als es bereits zu spät war. Mit einem der Spannriemen zum Befestigen der Ladung schnürte Niedermüller Mertel ruckzuck die Füße zusammen, und schon war er wieder abgesprungen.
Hilflos wie ein Wurm hockte Mertel auf dem Holzbänkchen der Ladefläche und hatte zu tun, das Gleichgewicht zu halten. An Flucht war nun auch ohne Bewachung nicht mehr zu denken.
Amelie hörte die unterdrückten Geräusche des Aufmarsches, als sie so leise wie möglich über den Burghof eilte. Was taten die so geheimnisvoll? Denen musste doch klar sein, dass sie längst gesehen worden waren! Sie hörte zwar eine Kakophonie an Schritten, Laufgeräuschen und Flüsterstimmen, aber niemand versuchte zu verhandeln oder verlangte die Übergabe.
Also hatten sie vor, die Burg zu stürmen. Amelie rechnete damit, dass modernste militärische Mittel zum Einsatz kämen: vielleicht eine Rakete mit Sprengkopf, um das Hindernis des Haupttores dem Erdboden gleich zu machen. Und dann irgendwas Brückenbautechnisches, um den Graben zu überwinden. Was auch immer, sie hatte wohl nicht mehr viel Zeit.
Nach ihrer Erkenntnis oben auf dem Bergfried hatte Amelie, nach allem Zögern und Zaudern, eine Entscheidung getroffen, und die gab ihr zuallererst mal den Mut, ihre Höhenangst zu überwinden. Unverzüglich war sie die Leiter herunter geklettert. Nun hoffte sie, beim Betreten der Burg nicht auf Süchtige zu treffen.
Unter der Grasnarbe. Das war das Stichwort gewesen. Wicca hätte es in ihrer Warnung gar nicht deutlicher und zugleich kryptischer ausdrücken können. Amelie hatte an die Keller gedacht und dort gesucht. Und sich gar nicht gewundert, dass Wicca nie versucht hatte, sie zu hindern. Weil dort eben nichts war. Über den Kellern, da waren Decken und Räume und noch mehr Decken und das Dach und darüber der Himmel, aber kein Gras. Nirgends.
Unter der Grasnarbe, das war woanders. Und endlich wusste Amelie,
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