Toten-Welt (German Edition)
auf die Austaste des Laptops, fischte etwas aus seiner Hosentasche und gab Mertel ein Zeichen, sich umzudrehen.
„Tut mir leid für die Gefangennahme. In solchen Zeiten muss man vorsichtig sein.“
Mertel stöhnte, als seine Hände frei kamen, und rieb sich die Gelenke.
„Sind wir ein Team?“
„Meinetwegen. Aber eine Frage hätte ich dann doch noch.“
Der Oberst nickte und zwinkerte verstohlen grinsend mit einem Auge.
„Ganz genau. Für mich heißt das, Sie gehören zu denen.“
„Schon klar. Das war vor etwa zwei Wochen, kurz bevor die Katastrophe losging. Unser Stabsarzt wurde abgelöst, und der Neue hatte eine Art Wundermittel dabei. Augentropfen, die wirklich halfen.“
„Gegen was?“
„So ziemlich gegen alles. Bei mir waren es Depressionen. Bei meinem Spieß die Gürtelrose. Irgendwann stellten wir fest, dass sich die Augenfarbe veränderte, und zwar bei allen, die das Mittel bekommen hatten. Da war dieser Stabsarzt bereits abberufen. Anfangs waren wir regelrecht süchtig nach dem Mittel. Als die Vorräte aufgebraucht waren, kam die jeweilige Krankheit zurück, begleitet von furchtbaren Krämpfen oder... ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Als würde man erstarren. Alle Betroffenen sind für ein, zwei Tage komplett ausgefallen. Das war in einer Zeit, als es gerade los ging, deshalb kann ich über den Moment des Kippens wenig sagen. Und Hilfe war sowieso nicht mehr zu bekommen. Aber die Starre verflog irgendwann, es ging uns allen besser denn je. Abgesehen von der Tatsache, dass die Welt untergegangen war.“
„Und dass diese wunderliche Medizin was damit zu tun gehabt haben könnte...“
„Das wurde uns auch bald klar. Aber das spielte sich alles draußen ab. Wir hatten uns längst eingebunkert. Da es bei uns keine Vorfälle gab, gewöhnten sich alle an diesen Zustand. Wir haben Leute mit und Leute ohne verschiedene Augen. Aber wir sind ein Team.“
„Klingt nett. Und Sie oder die anderen Verfärbten hatten nie, sagen wir mal – Mordgelüste? Es gab da einen Kollegen...“
Der Oberst schüttelte den Kopf.
„Wir kennen solche Geschichten. Von draußen.“
„Sie sind jetzt draußen.“
„Schon klar. Hören Sie, ich könnte Sie in meinem Team brauchen, aber nur, wenn Sie mir vertrauen. Wenn Sie das nicht können, lasse ich Sie gehen. Ihr Fahrzeug steht unten im Hof. Meiner Erfahrung nach haben Sie in einer solchen Welt allein auf Dauer keine Überlebenschance. Was meinen Sie?“
„Unter Vorbehalt. Ich werde beobachten, aber Ihnen nicht reinpfuschen. Ist das in Ordnung?“
„Nutzlose Esser kann ich nicht brauchen.“
„Ich mache mich nützlich, wo ich kann und das für sinnvoll erachte.“
„Dann willkommen an Bord.“
Der Oberst streckte die Hand aus, und Mertel schlug ein.
„Was ich am besten kann, ist ermitteln.“
„Ermitteln Sie. Von mir aus auch gegen mich. Je mehr wir wissen, desto besser.“
Es wirkte nicht.
Wicca war selbst fassungslos. Sie hatte sich ein Fläschchen ihres Saftes abgerungen, um den Neuminingen zu reaktivieren. Das hatte er befohlen, und sie hätte es auch so gemacht, pfeif auf seine Dominanz, aber gegen ihn hatte sie nie was gehabt, und diese gewisse Gewogenheit hatte die Jahrhunderte überdauert.
Aber das Mittel verpuffte. Er hockte nach wie vor stocksteif auf seiner Trage und raste innerlich. Das Rasen übertrug sich auf die Meute, sie wurde unruhig und grölte und schrie aus inzwischen Zehntausenden von toten Kehlen. Eine Keilspitze der versammelten Masse hatte sich bereits auf den Weg in die Stadt und durch die Stadt und zur Alten Wüstung und zur Burg gemacht, denn dass es dahin ging, sobald der Oberbefehlshaber auf seinen eigenen zwei Beinen laufen und mit hörbarer Stimme würde befehligen können, das war dem gesendeten Status Quo seiner neuen Weltregelung bereits zu entnehmen gewesen.
Alles plattmachen, was noch warmblütig und mit ungeteilter Seele lebte. Mehr gab es nicht zu begreifen. In der Stadt waren sie bereits auf die Jagd gegangen, und zwar geordnet jetzt im Gegensatz zu ihrem planlosen Herumwanken vor seiner Einflussnahme. Sie stürmten Wohnungen und metzelten dort nieder oder empfingen hungrige Flüchtlinge, die sich bereits heraus getraut hatten.
So bildeten sich zwar auch größere Grüppchen von Überlebenden, die sich neu und stärker verschanzten, aber insgesamt schwand der letzte Rest der Menschheit und wuchs das Millionenheer der Toten, und so geschah es überall, landesweit, kontinentweit,
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