Toten-Welt (German Edition)
aufgehört, sondern sich verstärkt. Inzwischen konnte sie nicht mehr aufhören daran zu denken, wie es wäre, sich von einem Felsen zu stürzen oder in einem Zoo über die Absperrung des Löwengeheges zu klettern und sich reißen zu lassen wie eine Antilope.
„Was suchen Sie denn, meine Liebe?“
Frieda hatte sich auf den Drehstuhl ihrer Chefin gesetzt und die oberste Schreibtisch-Schublade aufgezogen. Die Stimme kam von schräg vor ihr aus der Tür zum Wartezimmer.
„Die Patientenakte Goldmann, Sabine. Die Markt-Apotheke hat angerufen wegen der Globuli, die Sie ihr empfohlen hatten.“
„Gute Antwort. Vorher zurechtgelegt?“
Nicht nur darauf, erwischt zu werden, sondern auch auf den offen ausgesprochenen Verdacht der Schnüffelei war Frieda vorbereitet gewesen. Aus dem Konzept brachte sie nicht die provozierende Frage ihrer Arbeitgeberin, sondern deren Anblick. Statt ihrer flotten, fransigen Kurzhaarfrisur trug sie eine rot leuchtende, gelockte Löwenmähne.
Hinter der riesigen Frisur aber erwartete Frieda eine Überraschung, die ihr vollends die Fassung raubte: Amelie, ihre Mitbewerberin um die Stelle bei diesem Perversling Bergenstroh, trat wie eine mahnende Zeugin aus dem Schatten der Heilpraktikerin und starrte Frieda mit leeren Augen an.
„Sie beide kennen sich ja. Amelie weiß inzwischen, dass ich mehrere Praxen betreibe und mein Aussehen gelegentlich ändere, Sie wussten es noch nicht. Nun, liebe Frieda, die gesuchte Patientenakte finden Sie in Ihrem eigenen Schreibtisch, wie Ihnen bekannt sein dürfte.“
„Wirklich? Ich meine, klar sind die Akten in der Regel alle bei mir, aber diese eine, nach der habe ich überall...“
Ein entlarvender Blick ihrer Chefin ließ die Rechtfertigung im Keim ersticken.
„Bitte feuern Sie mich nicht. Ich hab in Wirklichkeit nach Ihrem Heilmittel gesucht, diesen Tropfen. Das ist die Wahrheit.“
„Was fehlt Ihnen denn?“
Frieda senkte den Blick.
„Aber meine Liebe, vor mir und Amelie müssen Sie doch keine Geheimnisse haben! Ich weiß doch außerdem längst, was Sie bedrückt.“
„Wirklich?“
„Aber sicher. Sie haben bemerkt, dass mein Mittel einer Frau mit extremen Stimmungsschwankungen geholfen hat, und jetzt denken Sie, bei ihrem ähnlichen Befund könnten die gleichen Erfolge eintreten. Mit Selbstdiagnosen ist das aber immer so eine Sache...“
„Ich dachte, bei Ihren vielen Patienten will ich Sie nicht auch noch...“
„Unfug. Sie können sich immer an mich wenden. In diesem Fall habe ich was viel, viel Besseres für Sie.“
Der anhaltend freundliche Ton ihrer Chefin ließ Frieda aufatmen und aus ihrem Schneckenhaus hervorschauen.
„Das wäre großartig, danke. Ich kann ja auch viel besser arbeiten, wenn ich seelisch ausgeglichener bin.“
„Aber natürlich können Sie das. Sie sind mir bisher eine solche Stütze gewesen, und Ihre zukünftige Rolle ist von essentieller Bedeutung für mich. Und deshalb dürfen Sie mich gleich heute zum ersten Mal zu einem Hausbesuch begleiten.“
„Hausbesuch, ich als Bürokraft? Was soll ich denn...“
„Aber Sie sind doch viel mehr als das. Genau wie die gute Amelie. Wollen wir dann?“
Amelie drehte sich wie ein Soldat auf Kommando zur Tür und schien nun auf weitere Anweisungen oder ein Vorangehen ihrer Chefin zu warten. Sie hatte bisher kein Wort gesprochen, nicht eine Regung gezeigt und Frieda nur unverwandt ins Gesicht gestarrt. Schon bei ihrem gemeinsamen Restaurantbesuch vor ein paar Tagen war Frieda aufgefallen, dass aus freundschaftlicher Nähe im Verlauf des Abends immer mehr Distanz erwachsen war. Deshalb machte sie nun, da sie offenbar als Kolleginnen zusammenarbeiten würden, einen Schritt auf sie zu, fasste sie leicht am Arm und fragte:
„Amelie, wie geht es dir denn? Alles klar bei dir?“
„Ihr geht es allerbestens“, antwortete die Heilpraktikerin an ihrer Stelle. „Ist es nicht so, Schätzchen? Sie müssen sich nicht so dienstlich geben unter uns Freundinnen.“
„Mir geht es sehr gut“, sagte Amelie mechanisch und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, das weder zu ihrer leeren Stimme noch zu ihren starren Augen passen wollte. „Es wäre mir eine große Freude, wenn du uns begleitest.“
„Na gut. Ist irgendwas mitzunehmen, Frau Dr. Berkel?“
„Alles vorhanden.“
Sie klopfte sich auf eine ihrer vielen Hosentaschen, die in Fläschchenform ausgebeult war.
„Erschaffen wir eine neue Welt!“
Ronan Bergenstroh hatte es aufgegeben, gegen die massive
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