Toten-Welt (German Edition)
was sie auch nicht gekümmert hätte. Sie hatte ja noch einen. Und mit dem hämmerte sie seit Stunden ununterbrochen gegen die Tür. Sie hätte geschrien, aber Schreien war eine Fähigkeit wie Worte bilden, dahin und vergessen. Was ihre Stimmbänder noch hervorbrachten, waren Grunz- und Stöhnlaute, und die kamen ganz automatisch aus ihrer Kehle, a-rhythmisch zum Wummern und Hämmern, das ihr Arm produzierte. Die Haut an der Handkante war längst durchgescheuert. Und doch würde sie weitermachen, Stunde um Stunde, Tag und Nacht, bis jemand öffnete oder sie in sich zusammenfiel. Dass ihre Energie nicht unendlich war, das wusste sie nicht, und doch hatte die Urgewalt ihrer ständigen Schläge genau diesen Grund.
Hier drin waren nur Steine und die Tür als Hindernis. Da draußen aber gab es Nahrung. Sie musste da raus.
„Die Frage war gar nicht so dumm.“
„Welche Frage, Schätzchen?“
„Ob Sie damit aufhören, wenn Sie Klangfärber haben.“
„Ich will ihn ja gar nicht haben. Besitz ist mir einerlei.“
„Sie wissen schon, was ich meine.“
Amelie und Wicca saßen in der Burg-Praxis Seite an Seite auf Stühlen neben der Tür und fertigten Schlangestehende ab.
„Ich weiß das übrigens mit den Kontaktlinsen.“
„Und ich hasse es, wenn Sie vom Thema ablenken.“
Amelie musste sich zusammenreißen, um sich ihr Erschrecken nicht anmerken zu lassen. Sie hatte gedacht, das sei ihr Geheimnis und ihre Fahrkarte hier raus.
„Ich hatte gar nicht vor, Sie dauerhaft zu infizieren. Sie sollten einen Eindruck bekommen.“
„Wovon?“
„Warum die hier wie die dressierten Affen anwackeln und sich etwas holen, das ihnen eigentlich schadet und ihr Leben zerstört. Warum sie nicht rebellieren und sofort mehr haben wollen, statt täglich hier auf der Matte stehen zu müssen. Hier bitteschön.“
Sie reichte einem Mann, dessen Augen auch aus der Entfernung deutlich unterschiedlich verfärbt waren, eine der fingerhutkleinen Plastikampullen, von denen sie neben sich Tausende wild durcheinander geworfen in einem Pappkarton hortete. In jeder Ampulle war lediglich ein Hauch von Flüssigkeit. Der Mann hatte jedes Wort gehört und verstanden, aber reagierte nicht einmal mit unwilligen Blicken, sondern warf eine leere Ampulle in einen anderen Karton und verließ das Gebäude grußlos durch eine Nebentür.
„Das nennt man Macht, Schätzchen.“
„Ich nenne das Sucht. Wer auf Heroin ist, muss in der Regel stehlen und gar morden, um an den nächsten Schuss zu kommen. Bei Ihnen gibt es die Droge umsonst und mit einem Lächeln.“
„Ach, mir ist auch zum Lächeln, wenn ich das hier sehe. Wie sie brav anstehen. Das schätze ich so an eurer Epoche. Man konsumiert ohne zu hinterfragen. Zu meiner Zeit hätten mich die selben Gestalten aufs Rad geflochten für das, was ich hier mache. Und damals wollte ich wirklich noch helfen.“
„Und was wollen Sie jetzt?“
„Was wollen Sie denn?“
„Nicht schon wieder ablenken!“
„Mach ich nicht. Sie sitzen hier neben mir und geben sich kritisch, während Sie mir helfen, genau das zu tun, was Sie verurteilen. Keine Spur von Mitleid für den armen Bergenstroh, der da oben gerade zu Asche zerfällt. Dabei meinen Sie doch, das Mittel hätte bei Ihnen nicht gewirkt, weil Ihre Augen noch gleich sind und Sie vermeintlich nicht das geringste Bedürfnis verspüren, sich in die Schlange einzureihen. Denken Sie mal drüber nach.“
„Ob ich Ihnen helfe oder nicht, macht doch wohl keinen Unterschied.“
„Wie lange weilen Sie schon auf dieser Erde, Schätzchen?“
Amelie stutzte.
„Sind es wirklich nur die 24 Jahre, die Ihr Ausweis über Sie verrät?“
Mission gescheitert. Aber so was von!
Der Hase hockte mit angezogenen Beinen auf dem Boden in einer Ecke und hörte ein erstes Rumoren. Er hatte die Stirn an seine Knie gelehnt und wollte es nicht sehen.
„Hey, Mann...“
Es klang müde, krank, irritiert.
„Du Arsch hast mich gefesselt!“
Das hörte sich nun ganz und gar nicht mehr schwach an. Eben noch wie schlaftaub, war der andere kurz davor zu toben.
„Und was soll der verdammte Sack über meinem Kopf?!“
In dieser Frage klang auch eine Spur von Angst mit. Der Hase hob den Blick und betrachtete die Silhouette seines Bruders. Im Halbdunkel der zugezogenen Vorhänge in Irene Bomhans Wohnung sah er aus wie auf dem elektrischen Stuhl kurz vor dem ersten Stromstoß. Er stemmte sich gegen die Fesseln des Armlehnensessels, die ihn in eine aufrechte, thronende
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