Toten-Welt (German Edition)
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Kapitel 3: Auftakt zur Apokalypse
Irene Bomhan zwang sich zu zielgerichtetem Denken und Handeln. Diese Jungs hatten ihr überhaupt nichts zu sagen! Und doch überwog der Wunsch, genau das zu tun, was sie wollten, ihre bisherigen Gelüste.
Sie fühlte sich noch als sie selbst, das war das eigentlich Verrückte. Sie wusste, dass ihre Süchte ganz woanders lagen. Aber Pralinen, Prosecco-Flaschen und Fernbedienungen waren ihr jetzt einerlei. Bis zum Vortag wäre dieses Desinteresse ein kleines Wunder gewesen. Nur leider, frei war sie erst recht nicht. Der neue Drang war alles beherrschend und absolut.
Warum nur wollte sie das tun? Sie mochte diesen Mann – bis zu einem gewissen Grad. Sie mochte ihren Job, den sie mit ihrer Tat verlieren würde. Und sie mochte Linda Klalinski, die gerade vor ihr stand und sie zutextete. Normalerweise hätte sie zurückgetextet. Heute hätte sie am liebsten einfach nur zugebissen. An dem Jungen, dem sie es heimgezahlt hatte, war kaum was dran gewesen.
Solche Idioten!
Jetzt, da sie deren Plan kannte und Teil davon war, hätte sie schreien können vor Wut über die Dummheit dieser Typen. Jeden Donnerstag trafen sich der Oberbürgermeister, der Landrat, der Polizeichef und als besondere Dreingabe der hiesige Bundestagsabgeordnete zum Schafkopf. Dabei waren sie ganz unter sich, ohne Leibwächter: alle vier zusammen und allein im Partykeller des Landrates. Drei ausknipsen, einen mit dem Mittel vollpumpen und instruieren – und dann nach und nach die anderen. Kinderleicht. Ein bisschen beobachten und umhören hätte gereicht, und man hätte sie, die unschuldige und in diesem Spiel ansonsten völlig nutzlose Chefsekretärin, da raushalten können.
Nicht, dass sie ihr neues Dasein allzu sehr verfluchte. Probleme, so richtige, kannte sie nun nicht mehr. Die Welt war eine gedeckte Tafel. Ihre neue Sucht bereitete ihr weniger Kopfzerbrechen als bisher ihre Trägheit, denn Übergewicht, Einsamkeit und Langeweile zählten nun nicht mehr. Und die Polizei? Hachgottchen, klar sollte man sich nicht erwischen lassen, wenn man den Speiseplan auf diese Weise umstellte. Aber als lebende Leiche, was hatte sie da schon zu befürchten? Toter als tot ging ja nicht.
„Ich muss jetzt sausen, Linda“, wimmelte sie ihre dauerschwatzende Kollegin ab und nahm sie sich als Mittagessen vor. Ihr Frühstück kam gerade in Schlips und Kragen blitzsauber und adrett herangeeilt. Natürlich ohne Begleitung zu dieser frühen Stunde. Auch jetzt hätten die Jungs den Job locker selbst erledigen können, verdammt!
Mit der linken Hand fummelte sie ungeschickt am Türschloss ihres Vorzimmers.
„Alles klar, Frau Bomhan?“, fragte der OB höflich und nahm ihr, ganz Gentleman, die kleine Mühe ab. „Sind Sie nicht Rechtshänderin?“
„Ja, aber – vermutlich ein kleiner Hexenschuss. Links geht heute alles leichter.“
„Sieht mir aber nicht so aus“, mäkelte er und eilte voraus zu seinem Amtszimmer. Die Aussicht, mit einer gehandicapten Chefsekretärin zusammenarbeiten zu müssen, passte ihm nicht und ließ ihn seine sonst so ausgesuchte Höflichkeit vergessen. 100 Prozent Leistung, immer und jederzeit. Das war sein Motto. Zu Arbeitstieren war er zahm.
Nur war man ohne Bizeps leider nicht mehr ganz so beweglich wie sonst. Dass dieser Hirni sich ausgerechnet diesen Muskel hatte aussuchen müssen, ärgerte sie am meisten an der ganzen Sache. Sie hätte ihrem Chef für seinen eben gezeigten Mangel an Mitgefühl gerne eine ähnliche Behinderung verpasst, aber er war für Großes vorgesehen, und da musste es unauffällig passieren und durfte ihn nicht einschränken oder gar verstümmeln. Noch hatte sie sich nicht entschieden.
„Ach, Herr Oberbürgermeister...“
Er war schon halb in seinem Amtszimmer verschwunden und schaute sie nur fragend an, statt zu antworten.
Wo zubeißen? Alles, was aus dem Anzug hervorschaute, waren Hände und Kopf. Und gerade da musste er unversehrt bleiben.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Er schaute sie an, als habe sie einen an der Waffel, und schob energisch die Tür zu. Seinen ersten Termin hatte er in einer Stunde. Bis dahin würde sie ihm gehörig einheizen.
Die Leiche der einstigen Chefsekretärin, späteren Langzeitarbeitslosen und kurzzeitigen Heilpraktikerinnen-Vorzimmerassistentin Frieda Berger stand an der massiven Eichenholztür des Burgkellers und starrte in die Schwärze. Ihr Arm hing schlackernd herunter, was sie schon nicht mehr wusste und
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