Toten-Welt (German Edition)
vergessen. Bruder Hermann drückte sich am Tisch hoch und begann im Licht der gesegneten Kerze damit, sein Heilsrezept zur Vollendung zu führen.
Als zwei der drei herrenlos gewordenen Pferde an der Zugbrücke der Burg anlangten, sich allein nicht über den Graben wagten und daher abdrehten, hatte der Haupttorwächter einen Augenblick zuvor damit begonnen, einem dringenden menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Nur ein paar Meter von den schnaubenden Tieren entfernt, plumpsten seine Verdauungsendprodukte durch den Aborterker in den Burggraben. Er vernahm dabei zwar eine Art Wiehern, aber da ihm der Fernwächter auf dem Bergfried nicht über näherrückende Reiter berichtet hatte, konnte es gar nicht sein, dass sich von außen etwas angepirscht hatte.
Freilich konnte die Torwache nicht ahnen, dass der Bergfried-Wart kurz zuvor seinen Posten verlassen hatte, um dem Burgkommandanten Meldung über ein Feuer im fürstbischöflichen Wald zu erstatten, der bald der städtische und mit des Kaisers Gnade wohl irgendwann der reichsstädtische Wald sein würde.
Natürlich war es der Bergfried-Wache nicht gestattet, sich ohne Ablösung nach unten zu begeben, aber die Burgbesatzung war dezimiert, die Meldekette mangels Männern unterbrochen und die Rauchsäule zu groß, um mit einem Alarm zu zögern.
Bis der Torwächter wieder auf seinem Posten war, hatten sich die beiden herrenlosen Pferde grasend aus seinem Sichtfeld verzogen. Was ihn dann aufschreckte, war ein weiterer zweiköpfiger Reitertrupp, der aus dem Burginnern so überraschend durchs Tor preschte, dass er dem Herrn Jesus und allen seinen Engeln dafür dankte, dieses Ereignis jetzt stattfinden zu lassen und nicht schon während seines Besuchs im Aborterker. Der Burgvogt war bekannt dafür, nicht lange zu fackeln. Er hatte einem seiner Vorgänger persönlich zwei Fingerspitzen dafür abgeschlagen, auf Posten in eine Fieber-Ohnmacht gefallen zu sein statt sich rechtzeitig ablösen zu lassen. Alles noch mal gut gegangen.
Obwohl er kürzer war, vermied Maria den Weg über den Markt und erreichte das Untere Tor über ein Gewirr von Gassen. Der Nachrichter wohnte auf der anderen Seite der Mauer in einem von ihm selbst gebauten Haus am Rande des äußeren Grabens. Auch wenn man ihn als Henker fürchtete, man hätte ihn nicht aus der Stadt verbannt, weil man doch seine Heilkräfte schätzte und brauchte. Schuld an seiner Isolation war seine Tätigkeit als Abdecker. Die Tierkadaver, die zu allen Zeiten des Tages bei ihm abgeladen wurden, stanken so bestialisch, dass der Weg zu ihm selbst dann der Nase nach zu finden war, wenn er alles, was faulte, vor Stunden beseitigt hatte.
An diesem Tag war es so schlimm, wie es nur sein konnte. Maria zählte zwei ganze Ochsen mit von Verwesungsgasen dick geblähten Bäuchen, drei Hunde und ein Schaf. Neben den erkennbaren Tierleichen lag ein dampfender Klumpen, der nur noch am Geweih zu deuten war.
Der Nachrichter aber saß auf der Türschwelle und schärfte seine Klinge, denn die bevorstehende Hinrichtung drängte nach vorn. Als Maria das Schwert sah, erschien ihr der Plan mit dem Arsenik lächerlich. Keiner der Burgkämpfer hatte versucht, ihnen die Köpfe abzuhauen. Aber genau so mochte mit ihnen fertig zu werden sein. Denn wie sollte ein Wiedergänger herumlaufen ohne zwei Augen, die ihm den Weg wiesen, und zubeißen, wenn der Mund am Boden lag und nach Erde schnappte?
„Meister Hans, ich störe dich nur dann, wenn das Blutgespräch schon hinter dir liegt.“
„Es liegt vor mir, Jungfer Maria, aber komm trotzdem heran. Der Gestank, scheint’s, kann dich auch diesmal wieder nicht schrecken.“
„Ich hab nur eine Bitte. Eine Bitte und ein Geschäft. Hier zwei Gulden.“
„Braucht er wieder vor allen anderen?“
„Wie gewohnt.“
Der Nachrichter schüttelte den Kopf und legte das Schwert beiseite.
„Er ist auf dem Holzweg. Seine Mittel werden durch kein Blut der Welt wirksamer. Und dass frisches erstes Angstblut besonders taugt, ist nichts als Aberglaube. Das für einen Mann Gottes...“
Du ahnst nicht, wie sehr du irrst. Maria dachte es, aber sagte es nicht. Sie hatte sich anders entschieden. Vor sich hatte sie einen Mann, der Wissenschaft von Religion und sonstigem Hokuspokus klar trennte. Dass Tote aufstanden, hörte der sich nicht an. Dass sie Lebende auffraßen, wäre zu beweisen, aber der Nachrichter würde nicht mit ihr kommen, um es sich vorführen zu lassen.
Daher zog sie aus einer ihrer Taschen eine
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