Toten-Welt (German Edition)
beide niemanden recht mochten oder gemocht hatten. Aber sie ließen sich in Ruhe, und das war gut, vor allem jetzt. Ohne hinzuschauen taumelte Bernkaller über die Brücke, hörte das Klackklack der Hufe auf dem alten Holz und sah den Nachtwächter-Torwächter an ihm vorbeischauen.
Blieben noch der Fangtorhof und der Durchgang des Haupttorturms. Und wieder hatte er Glück. Ein Restgefühl für Ironie meldete sich und ließ ihn sich darüber ärgern, dass er im Leben nie so viel Glück gehabt hatte wie jetzt im Tod. Aber jetzt war jetzt, egal welcher Funken ihn auf die Beine gestellt hatte und nach vorne trieb. Der Torturm-Wächter schiffte ins eigene Wachstübchen und war noch so blau von der Nacht, dass er wohl eine ganze Räuberbande in die Stadt gelassen hätte ohne Alarm zu schlagen. Saubere Reichsstadt-Anwärter waren das.
Aber nun war er drin!
Vor ihm lag die Krämergasse, die ihn direkt zum Hauptmarkt führen würde. Und hinterm Hauptmarkt eine Gasse weiter vor dem Kirchplatz wohnte der Stadtpfarrer. Das einzige, was ihm jetzt noch passieren konnte, war ein Anfall von Heißhunger, der ihn über den erstbesten Stadtfrack auf dem Weg würde herfallen lassen. Aber war es nicht einerlei, an wem er seinen Hunger stillte? Was musste es der Pfarrer sein? Es hätte schon der Torwächter sein können.
Lorenz Bernkaller ließ die Zügel los, ohne es entschieden zu haben, zu wollen oder auch nur zu merken. Seine Hand glitt nach unten, das führerlose Pferd blieb sofort stehen. Allein torkelte er voran. Der Wohlgeruch wurde stärker und stärker. Da vorne, ein paar Schritte weiter nur, war gerade Markt. Für die Menschen war es wohl Topfmarkt an diesem Tag. Für ihn Fleischmarkt und nichts sonst. Er würde sich bedienen, ohne zu bezahlen.
Und das Leben der Stadt für immer verändern.
„Seid ihr des Wahnsinns, Männer!“
Franz von Neuminingen sprang vom Pferd und verpasste dem erstbesten Kerl, den er zu fassen kriegte, eine derartige Ohrfeige, dass es ihn von den Füßen schleuderte. Der Burgvogt hätte schreien können vor Zorn. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Tobsuchtsanfall und fragte, kaum hatte er die Aufmerksamkeit der drei bescheuerten Deppen auf sich gezogen, in gefährlich ruhigem Tonfall: „Was zum Teufel ist hier los?!“
„Wie befohlen“, antwortete nach kurzem Zögern der kleinste der drei und klang überhaupt nicht verängstigt und unterwürfig. „Wir roden den Wald. Im Auftrag vom Fürstbischof.“
„Und was soll das verdammte Feuer?“
„Das machen wir doch immer so. Weil, wohin sonst mit dem ganzen Gezweig?“
„Liegen lassen, wie wäre es damit? Das Feuer sieht man doch bis über die Stadt hinaus.“
„Ach so, ja und?“
„Ich hatte ausdrücklich befohlen, dass der Holzeinschlag unauffällig vonstatten gehen soll. Es hat seine Gründe, wenn ich so was sage.“
„Ja, Vogt.“
Die Art, wie der Trottel das Wort „Vogt“ aussprach, ließ seine Wut neu aufkochen. Was hatte er hier verloren, verdammt! Weil alles aus dem Ruder lief. Ein Trupp mal wieder unterwegs nach Maria Berkel, ein zweiter Trupp ausgerückt, um den ersten Trupp zu suchen, und schon hatte er, der weiß Gott Wichtigeres zu tun hätte, weit unter seinem Amt in den Wald zu galoppieren und Idioten zu befehligen.
Wohl verlor der Fürstbischof immer mehr seinen Verstand. Gut, wenn er endlich weg war. Am liebsten wäre der Burgvogt in die Stadt geritten und hätte persönlich den Umbau vom Rathaus zum Schloss vorangetrieben, damit der alte Fettschädel endlich seine Burg verließe.
„Na, dann löscht doch! Es greift schon auf die Bäume über!“
„Wohl befohlen, Vogt.“
Mit Lumpen und Baumwedeln machten sich die Hohlköpfe endlich daran, das Feuer zu löschen. Franz von Neuminingens Blick folgte der schwarzen Rauchsäule bis weit in den Himmel. Der Schaden war wohl schon angerichtet. Aber er hatte eine Idee, wie die Folgen noch abzubiegen wären.
Er wendete sein Pferd und preschte zurück in Richtung Burg. Kaum war er außer Sicht und nicht mehr zu hören, unterließen die drei Waldarbeiter ihre Lösch-Aktivitäten. Ein gutes Feuer gehörte zum Holzeinschlag. Der mit der geschwollenen Backe spuckte in die Glut und malte sich aus, wie er Rache an diesem Schwein nehmen würde, sollte sich ihm je die Gelegenheit bieten. Er hätte vor Freude Luftsprünge gemacht, wenn er geahnt hätte, welch verheerende Form von Rache ein anderer für ihn übernehmen würde.
Es musste der Hunger sein.
Der
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