Totenacker
den Ruhestand gehen, also blieben ihm knappe sechs Wochen, diesen Fall zu Ende zu bringen, was ohne Hilfe unmöglich schien.
Bis heute war nicht klar, ob seine Stelle neu besetzt oder die gerichtsmedizinische Abteilung in Emmerich aufgelöst werden sollte. Wenn er gute Arbeit leistete, wenn der Fall groß durch die Presse ging, würde sein Dienstherr sich vielleicht für den Erhalt der Pathologie entscheiden.
Er würde gut sein, das wusste er, aber er musste auch schnell sein, und das war ein Problem. Ein Problem, das er unauffällig und vor allem sofort zu lösen gedachte. Und die Lösung hieß Marie Beauchamp. Die Tochter eines Studienkollegen hatte bisher an verschiedenen Universitäten gearbeitet, gerade war ihr Vertrag am Institut in Bologna ausgelaufen, und sie wartete nur darauf, sich auf seine Stelle zu bewerben, wenn diese denn neu ausgeschrieben würde. Es reizte sie, eigenverantwortlich zu arbeiten, auch wenn sie dafür in die Provinz ziehen musste, aus demselben Grund hatte auch er damals in Emmerich angefangen.
Noch vom Opschlag aus führte er zwei Telefonate und machte sich dann auf den Weg zum Verwaltungschef seiner Klinik, der irgendeinen Topf auftun sollte, aus dem man Marie für ihre Mitarbeit bezahlen würde.
Wohnen konnte sie bei Sofia und ihm auf Haus Eyll, das würde ihr bestimmt gefallen. Sie hatte in den letzten Jahren öfter mal ein Wochenende bei ihnen verbracht, wenn sie auf einer ihrer Radwandertouren gewesen war, und sich immer wohl bei ihnen gefühlt.
Als Bernie Schnittges ins Präsidium kam, hatte van Appeldorn seinen Bericht schon geschrieben.
«Gib mir mal einen Aktendeckel rüber, du stehst gerade.»
Schnittges tat, wie ihm geheißen, und setzte sich dann. «Vor fünfundsechzig bis siebzig Jahren, sagt Arend, das heißt doch, die Leute sind während des Krieges begraben worden», überlegte er.
«Ja, sieht so aus», stimmte van Appeldorn zu. «Warum guckst du denn so finster?»
«Ach, mir ist etwas eingefallen. Vor drei oder vier Jahren hat man in Stuttgart ein Massengrab entdeckt mit Skeletten, die etwa genauso lange dort gelegen haben. Es sollen Häftlinge aus einem Konzentrationslager gewesen sein, die man dort auf die Schnelle entsorgt hat, als die Alliierten anrückten. Monatelang ist dort gegraben und geforscht worden, jede Menge Archäologen und Anthropologen waren dabei und eine Sondereinheit für NS-Verbrechen vom LKA. Ich hoffe nur, dass uns hier nicht auch so etwas blüht.»
Van Appeldorn schüttelte den Kopf. «Bei uns hier hat es kein KZ gegeben und auch kein Arbeitslager.»
«Das ist schon mal gut.» Bernie lehnte sich zurück und schaute van Appeldorn nachdenklich an. «Vielleicht sind es ja Bombenopfer. Kleve ist doch schwer bombardiert worden, oder?»
«Zweimal», bestätigte van Appeldorn. «Am 26. September 44 gab es einen Angriff auf die Unterstadt, und am 7. Oktober ist dann die restliche Stadt fast vollständig ausradiert worden.»
«Aber die Stadt war doch sicher schon vorher evakuiert worden, oder?», fragte Schnittges. «Wenn ich mich richtig erinnere, war die Front doch schon ab Mitte September 44 am Niederrhein.»
«Ja, stimmt, aber es gab wohl Probleme. Die Leute wollten nicht weg. Soweit ich weiß, hatte man es bis Anfang Oktober geschafft, gerade mal die Hälfte der Bürger zu evakuieren.»
«Dann könnten unsere Toten tatsächlich Bombenopfer sein.» Schnittges stand auf und ging zum Stadtplan hinüber, der an der Wand hing. «Haben dort am rechten Kanalufer vor dem Krieg Häuser gestanden?»
«Ich bin mir nicht sicher.» Van Appeldorn rieb sich die Augen. «Aber ich habe zu Hause ein paar Bücher über die Stadtgeschichte, auch alte Bildbände. Wenn ich da nichts finde, müssen wir am Montag ins Stadtarchiv.»
«Ja.» Schnittges fuhr sich durchs Gesicht. «Ich habe Hunger. Sollen wir was essen gehen?»
«Nein, lieber nicht. Meine Frau wartet auf mich.» Van Appeldorn zögerte. «Aber für ein schnelles Bier reicht die Zeit noch.»
Doch Schnittges hob abwehrend die Hand. «Kein Alkohol für mich, ich muss noch nach Krefeld.»
«Sag bloß, du hast immer noch keine Wohnung gefunden.»
Bernie wunderte sich, dass Norbert überhaupt etwas von seiner Misere mitbekommen hatte. Beruflich verstanden sie sich nach ein paar Startschwierigkeiten ganz gut, aber privat hatten sie nichts miteinander zu tun. Auch die Kollegen schienen keinen engeren Kontakt zu van Appeldorn zu haben. Er blieb gern mit seiner Familie für sich und nahm wohl an,
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