Totenbeschwörung
erzählen? Etwa wie man überlebt? Nein, denn darin haben sie ja versagt! Wie man feiert? Nein, denn lachen können sie ja auch nicht mehr! Wie man liebt – oder der Lust frönt? Wie denn, wo ihre besten Stücke doch verrottet sind! Also sag mir, was bringt es dir? Und wenn die Antwort ›nichts‹ lautet, dann lass die Toten tot sein und lerne stattdessen lieber, wie man lebt!«
»Wie meinst du das – was es mir bringt?«
»Was können sie dir denn erzählen, was du nicht ohnehin schon weißt? Denn immerhin bist du doch noch am Leben und sie nicht. Oder habe ich etwa Unrecht?«
Bedächtig schüttelte Nestor den Kopf. »Es verhält sich alles ganz anders. Hör zu, ich versuche es dir zu erklären. Als ich das letzte Mal auf der Sonnseite war, nach dem Überfall, spürte ich, wie die eben erst gefallenen Toten, die überall herumlagen, vor mir zitterten. Mehr noch, ich merkte, dass auch diejenigen, die schon seit Langem tot, die bereits vor Jahren gestorben waren, vor Angst bebten. Und alle wussten sie, wer ich war ...«
Canker klatschte in seine riesigen Pranken. »Aber wovor sollten sie denn Angst haben?«
»Vor dem, was ich kann. Vor meiner Fähigkeit ...«
»... mit ihnen zu reden?«
Nestor vermied es, ihm in die Augen zu blicken. »... sie zu foltern!«
»Eh?« Mit einem Mal war Canker ganz Ohr.
»Die Toten unterhalten sich nicht freiwillig mit mir«, erklärte Nestor ihm schließlich. »Ich muss sie erst dazu zwingen!«
»Du zwingst sie dazu, mit dir zu reden?«
»Darin besteht meine ... Kunst, ja!«
»Indem du sie folterst?« Canker gingen fast die Augen über.
»Bis auf dieses erste Mal, ja! Aber verstehst du denn nicht? Wäre ich kein Nekromant, hätte Carmen niemals mit mir zu sprechen vermocht!«
»Carmen?«
»So hieß sie! Eines der Mädchen, welche die Gebrüder Todesblick damals mitnehmen wollten. Du erinnerst dich sicher an sie. Bei Wran und Spiro wäre es ihr besser ergangen! Seitdem meiden die Toten mich; aber sie haben keine Möglichkeit, meiner Kunst zu entgehen!«
»Das muss ich mit eigenen Augen sehen!« Canker war aufgesprungen. »Auf der Sonnseite, jawohl, in wenigen Stunden! Wir gehen gemeinsam auf die Jagd, und dann ... zeigst du mir, wie man es macht!«
»Ich kann es dir zeigen, gewiss, aber du wirst trotzdem nicht sehen, wie man es macht«, erwiderte Nestor.
»Eh?«
»Du wirst nicht viel davon mitbekommen! Was ich betreibe, ist kein Mentalismus, jedenfalls nicht, wie du ihn kennst. Wenn ich meine Fragen laut stelle, wirst du zwar verstehen, was ich zu ihnen sage, aber ihre Antworten kannst du nicht hören. Es handelt sich um Tote, Canker!«
»Na gut ...« Canker zuckte die Achseln und tat, als verstehe er. »Aber zumindest kann ich dir bei ... der Arbeit zusehen, nicht wahr?«
»Oh?« Nestor bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Ich wusste doch, dass du einen Hang zum Makabren hast!«
»Zum Makabren? Ich? Niemals! Ich bin höchstens begierig darauf, neue Erfahrungen zu sammeln, das immer! Doch ... verrate mir eines: Wie foltert man einen Toten? Ich meine, er spürt ja nichts mehr!«
»Gerade darin besteht meine Fähigkeit«, entgegnete Nestor. »Wenn ich sie berühre, spüren sie es. Sie hören meine Worte, auch wenn niemand sonst sie hört, noch nicht einmal meine Offiziere. Sie fühlen meine Hände auf ihren Körpern, das Reißen meiner Fingernägel. Sie wissen, dass meine Drohungen ernst gemeint sind. Und was sie mir zu erzählen haben ...«
»Ah! Jetzt kommen wir zum Kern der Sache!«, meinte Canker. »Nun sprich schon, was erzählen sie dir?«
»Hör zu«, sagte Nestor, »es gibt da etwas, was du wissen solltest. Der Tod ist völlig anders, als ...« Mit einem Mal klang seine Stimme weit weg, so als würde er träumen.
»Eh? Anders als was?«
»Anders, als du glaubst! Du nimmst an, der Tod sei das Ende! Aber dem ist nicht so. Sie existieren weiter!«
»Die Toten existieren also weiter!?«, schnaubte Canker. »Zur Hölle nochmal, nein! Sie landen unter der Erde oder auf einem Scheiterhaufen oder werden klein gemahlen für die Vorratskammern. Auf der Sonnseite lässt man sie mitunter sogar verwesen, aber das ist auch schon alles. Hier dagegen, in der letzten Felsenburg, gibt es keine Verschwendung! Wir lassen nichts umkommen! Falls du das unter Weiterexistieren verstehst, muss ich dir zustimmen! In den Bäuchen unserer Bestien existieren sie weiter und geben ihnen die Kraft zu fliegen und zu kämpfen!«
»Du sprichst von ihren Körpern«, entgegnete Nestor
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