Totenbeschwörung
führte sie über den düsteren Saum des Bergsattels einen geröllbedeckten Hang hinab in die undurchdringliche Dunkelheit einer nach Norden zu gelegenen Felsspalte. Dort waren sie in Sicherheit!
Auf dem Weg dorthin wollte sie wissen: »Wer? ... Was ...?« Es ging ihr nicht anders als einem Kind, das sich verirrt hat. Sie wusste weder, wo sie sich befand, noch was mit ihr geschah, nur dass eine Verwandlung in ihr vorging und sie beinahe der Tod ereilt hätte.
Doch die Gestalt im Umhang befahl ihr lediglich, leise zu sein. Beruhige dich, Carmen, erwiderte der Fremde. Noch ist nicht alles verloren. Du teilst dasselbe Schicksal wie ich. Wir sind beide dem Tod entronnen. Im Augenblick sind wir Verbannte und unserer rechtmäßigen Stellung beraubt. Aber noch sind wir am Leben, wir beide, du und ich, und wir werden weiterleben und neue Kräfte sammeln. Und eines Tages werden wir zurückkehren, um Rache zu nehmen; und sie wird süß sein, das verspreche ich dir! Du musst mir vertrauen. Ich weiß, was zu tun ist!
Sie glaubte ihm. Und wie sie ihm glaubte! Sie bekam keine Luft mehr, ihre Hand fuhr an ihre Kehle, die mit einem Mal wie ausgedörrt war. Es war die nackte Angst! In der Düsternis ihres Zufluchtsortes sank sie in seinen Armen zusammen; denn wenn irgendjemand wusste, was zu tun war, dann er. Und sie hatte geglaubt, er sei tot und vergessen!
Oh, sie war froh gewesen, als er nicht mehr zurückkehrte, und der hübsche Lord Nestor an seine Stelle trat. Doch nun war sie um einiges froher, dass er wieder da war und ihr das Leben gerettet hatte.
Gleichzeitig jedoch erfüllte sie eine schreckliche Angst! Denn obwohl er sich auf furchtbare, grässliche Weise verändert hatte, ließ sich nicht bestreiten, dass es sich um ihren früheren Gebieter handelte. Sie hatte es geahnt, sobald seine Gedanken in ihrem Kopf erklungen waren. Doch nun, wo er seine Maske abnahm und zu Boden warf, wich auch der letzte Zweifel.
Sein zerstörtes Gesicht sah fürchterlich aus. Es war die entstellte Fratze eines Wahnsinnigen!
Dann wurde es dunkel um sie ...
All dies lag nun zwei Jahre zurück, und nicht alles davon war Nestor bekannt. In manchem irrte er sogar gewaltig. Er lag träumend unterhalb der Uferböschung eines Flusses der Sonnseite und wartete darauf, dass er genas.
Während sein metamorphes Vampirfleisch den letzten Eitertropfen und das letzte Silberschrot, das die Szgany ihm verpasst hatten, abstieß und die unzähligen kleinen Wunden sich wieder zusammenfügten, folgten seine Träume nicht länger ziellos den gewundenen Pfaden seines Unterbewusstseins, sondern wandten sich einem erfreulicheren Thema zu. Er durchlebte noch einmal die ersten Tage nach seiner Ankunft in der Saugspitze, als aus ihm Lord Nestor wurde ...
Einige Zeit – erst sechs Monate, dann neun – war verstrichen seit Nestors Aufstieg zum Wamphyri, und die Beinahe-»Lady« Carmen war so gut wie vergessen, nicht jedoch das grässliche Talent des jungen Lord Nestor, das dieser mit ihrer »Hilfe« entdeckt hatte. Obwohl es ihn anwiderte, faszinierte es ihn doch zugleich, sodass er es schließlich ausprobierte. Er war ein Nekromant und verfügte über die Fähigkeit, den Toten ihre Geheimnisse zu entreißen. Zudem war er in der gesamten Wrathhöhe der Einzige mit diesem Talent, was ihn den anderen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen machte.
Allerdings verfügte ein jeder von ihnen über seine speziellen Gaben und Talente, wenn man die diversen unter den Wamphyri verbreiteten Anomalien, Abnormitäten und Mutationen denn als »Talente« bezeichnen wollte. Wrans Körperkraft zum Beispiel wuchs um das Dreifache, wenn ihn ein Wutanfall packte. Sein Bruder Spiro übte sich beständig darin, mit Blicken zu töten, wie es sein Vater praktiziert hatte. Nur war ihm bisher noch kein nennenswerter Erfolg beschieden. Gorvis Hinterlist war so ausgeprägt, dass er sogar sich selbst betrügen würde, wenn es nur möglich wäre. Dann war da natürlich noch die Lady Wratha mit ihrem Mentalismus und ihrem Geschick, ihren Geist zu verhüllen, sodass sie zwar die Gedanken der anderen zu lesen, ihre eigenen jedoch – im Großen und Ganzen zumindest – für sich zu behalten vermochte. Und der Hunde-Lord war ein Lykanthrop! Damit wirkte er eher wie ein riesiger Wolf, wenn er auf der Sonnseite jagte.
Mit Nestors Talent dagegen verhielt es sich ... anders.
Irgendjemand hatte davon erfahren – das war nicht weiter erstaunlich. Wratha unterhielt überall, in jeder einzelnen
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