Totenbeschwörung
gehe ...«
»Ja?«
»Du hast vorhin davon gesprochen, dass dich etwas bedrückt.« Canker schien ehrlich besorgt. Er hatte einen Narren an Nestor gefressen.
Nun war es an Nestor, die Achseln zu zucken. »Das war nur so dahergeredet. Es hat nichts zu bedeuten.«
»Nein«, meinte Canker. »Alles hat seine Bedeutung! Sag mir eines: Verfügst du auch über genügend Frauen?«
»In meiner Stätte gibt es ein paar hübsche Sklavinnen, gewiss«, erwiderte Nestor.
»Und wie ernährst du dich?«
»Nicht anders als du! Ich mag es nicht ganz so blutig, außer wenn ich etwas auf der Sonnseite trinke. Abgesehen davon nehme ich Fleisch und Wein zu mir und gelegentlich ein bisschen Obst.«
»Und wie steht es mit dem Blut? Nur auf der Sonnseite? Bedienst du dich denn nicht an deinen Sklavinnen? Das solltest du, Nestor, das solltest du! Denn was sind sie schon? Nichts als Gefäße! Und vergiss niemals: Das Blut ist das Leben!«
»Manchmal trinke ich ... im Schlaf.«
»Aber mit Bedacht, oder? Die Sache mit Carmen war dir eine Lehre, wie es scheint.«
»Schon möglich!«
»Huh!«, ächzte der Hunde-Lord. »Also was bedrückt dich dann? Weißt du vielleicht, was es ist?«
»Keine Ahnung«, log Nestor. Und da er spürte, dass Canker einen vorsichtigen Versuch unternahm, seine Gedanken zu lesen, wechselte er schnell das Thema. »Sag mir doch, mein Freund, was macht dein Musikstück für die Mondgöttin? Jetzt ist schon ein ganzes Jahr vergangen und noch immer sitzt du voller Fleiß daran!«
Die Fragen, die Canker stellen wollte, waren vergessen. »Meine Musik? Mein Instrument? Voller Fleiß? Das ist nur zu wahr! Ein solches Stück zu komponieren, ist keine Kleinigkeit. Aber es geht voran, es geht voran! Hast du mich nicht gehört – bei Sonnauf, wenn die anderen noch tief schlafen? Du hast doch gewiss die Melodie erkannt, die du mir vorgespielt hast?«
»Ich habe dich gehört«, nickte Nestor und verzog dabei das Gesicht. »Und ich zweifle nicht daran, dass auch Wratha und die anderen dich gehört haben, während sie eigentlich in tiefem Schlaf liegen sollten! Was die Melodie angeht: Ja, sie ist mir irgendwie bekannt vorgekommen.«
»Oh-ha-ha- ha! « Canker vollführte einen Luftsprung, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Da habe ich euch also gestört? Gut, hervorragend! Ich meine, nicht so gut, dass ich dich um den Schlaf gebracht habe – nein, natürlich nicht, niemals! Aber großartig, wenn es mir bei den anderen gelungen ist. Das entspricht doch genau dem Bild, das sie von mir haben. Immerhin bin ich ein Verrückter und habe nur Unsinn im Sinn! Und den Schein muss man doch wahren, nicht wahr?«
Nestor brachte ein Lächeln zustande. »Na gut, dann fort mit dir zum Üben! Nachher fliegen wir los und jagen ein bisschen auf der Sonnseite – aber nur wir beide, denn ich offenbare mein Talent nicht jedem und hüte es vor den anderen! Später suchen wir uns dann eine alte Begräbnisstätte der Szgany. Dort wirst du sehen, was es zu sehen gibt!«
»Einverstanden!«, heulte Canker, während Nestor ihm freundschaftlich auf den bepelzten Rücken klopfte. Damit geleitete der Nekromant den Hunde-Lord aus der Saugspitze und wartete, bis dieser mit großen Sprüngen um eine Biegung der hinab in die Räudenstatt führenden Wendeltreppe verschwand.
Sobald Canker außer Sicht war, verfiel Nestor wieder in seinen Trübsinn. Etwas ... bedrückte ihn. Den Grund dafür kannte er sehr wohl! Irgendwo auf dieser Welt – weit weg möglicherweise, aber dennoch da – lebte noch immer sein Erzfeind von der Sonnseite, und dies ließ ihm keine Ruhe. Er wusste, dass sein Feind am Leben war, wusste es ebenso sicher, wie er die Muster des Zahlenwirbels erkannte, die ihm durch den Kopf rauschten, dieses Mahlstroms metaphysischer Zeichen, hinter denen sich das Bewusstsein seines Gegners verbarg.
Wenn Nestor durch das Dunkel der Nacht streifte, auf der Sonnseite jagte oder in der Saugspitze nach dem Rechten sah, machte ihm dies nur selten zu schaffen. Doch während der angsterfüllten Stunden, in denen die sengende Glut auf das Grenzgebirge herniederbrannte, wenn in der Wrathhöhe alles in tiefem Schlaf lag und die hellen, tödlichen Strahlen der Sonne auf die höchsten Türme und Zinnen der Lady Wratha herabstachen – dann spürte er ihn.
Zunächst nur in seinen Träumen, die selbst nichts als ein Wirbel verschwommener Bruchstücke waren, Bruchstücke von Dingen, an die er sich nicht zu erinnern wagte. Doch wenn er erwachte und seine
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