Totenblick: Thriller (German Edition)
inhalierte den Pfefferminzgeschmack, der die Kehle zu vereisen schien.
Die Bildschirme waren ausgeschaltet, er wollte gerade nichts um sich herum, was sich veränderte. Er brauchte Ruhe. Gleichförmigkeit. Entspannung.
Die Laokoon-Gruppe hatte ihn sehr gefordert, die Verarbeitung der Schlangen kostete Zeit und Kraft. Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er sich nicht mehr Mühe gegeben hatte. Doch dabei war es ihm mehr um die Warnung an die Ermittler als um perfekte Kunst gegangen: Sie missachteten seine Regeln, und er brachte ihnen das in Erinnerung. Drastisch und dramatisch.
Seine Vorräte an Sprengstoff genügten, um Chaos in Leipzig anzurichten. Bei seinem Zusammentreffen mit Löwenstein hatte er eine Totmannschaltung bei sich getragen, doch das verschwieg er dem Hünen wissentlich. Wären statt ihm eine Horde SEK-Leute aufgetaucht, wäre die Stadt in einer Detonationswolke aus grauem Staub versunken.
Die Sprengpakete lagen immer noch an ihren Plätzen und waren so rasch nicht zu entdecken. Seine Absicherung!
Die Ermittler würden niemals daraufkommen, wie er an sein Wissen gelangte. Sicherlich vermuteten sie einen Aufenthalt in einem Terrorcamp. Was er in Wirklichkeit in den vielen Jahren erlebt und wen er getroffen hatte, konnten sie nicht herausfinden.
Er lernte das Handwerk durch Zufall. Aus Neugier. Zur Inspiration. Mit einem Stoff zu hantieren, der das Leben bei falschem Umgang in Sekundenbruchteilen beendet, besaß einen gewissen Reiz. Es konnte den Druck beenden, der auf Atlas lastete, den Stein von Sisyphos pulverisieren …
In den letzten Wochen bemerkte er eine Veränderung an sich, nein, in sich. Er gestand es sich zunächst kaum ein, aber er liebte den Druck! Er liebte es, wie sich die Anspannung aufbaute, wie sie ihn antrieb und aufputschte, anpeitschte, bis sie sich zu einem genau festgelegten Moment entladen durfte.
Das wollte er in seinem Leben nicht mehr missen. Er brauchte es, er wollte es, immer und immer wieder.
Wie viele Jahre hatte er sich gesagt, dass es nicht gut war, was er tat. Was er anderen antat. Wie grausam das doch sei, bei aller Kunst, die er erschuf.
Nun blickte er der Wahrheit ins Gesicht. Er wollte nichts anderes.
Seine Blicke schweiften im Sepialicht durch den Raum der Inspiration.
Alte Bilder.
Zu viele alte Bilder.
Hier gab es nichts, obwohl sich eine grobe Idee in seinen Kopf geschlichen hatte.
Er nahm einen tiefen Zug, hielt die Luft an, um den Qualm samt Nikotin in den Lungen zu behalten, und verließ den Raum.
Seine Schritte führten ihn ins zweite Zimmer, dessen Wände mit Bildausschnitten aus internationalen Tageszeitungen tapeziert waren: Morde, Greueltaten, Gewaltverbrechen der schlimmsten Sorte.
Auch dies war ein Raum der Inspiration und nicht der letzte in diesem Haus, in dem er sich niedergelassen hatte. Er mochte es, auf diese Weise Eingebung zu finden.
Er atmete aus, der Rauch schoss aus Nase und geöffnetem Mund.
Die Augen hatten etwas entdeckt. Rechts, neben dem Fenster, eine kleine Aufnahme mit russischem Untertitel. Ein braungelblicher Sonnenstrahl fiel darauf und hob sie aus dem Bildermeer empor.
Mit einem Mal durchfuhr es ihn. Danach hatte er Ausschau gehalten! Und es traf genau die Richtige.
Er lauschte in sich: Der Druck war da. Genau, wie er ihn brauchte. Es durfte niemals mehr aufhören, es machte süchtig, und er liebte es.
»Ich kann das«, flüsterte er, und ein Lächeln umspielte die Mundwinkel.
***
Leipzig-Taucha, 28. Dezember
Ares stieg an der ersten Haltestelle nach dem Ortseingang aus der Tram und sah sich um.
Der Wind wehte ihm ins stoppelige Gesicht, feiner Nieselregen benetzte die Haut und verfing sich in seinem Musketierbart.
Es roch nach Abgasen, nach Großküche, nach Ungemütlichkeit. Taucha hatte das Schicksal ereilt, von nicht wenigen als erweitertes Leipzig angesehen zu werden, obwohl es sich um eine eigene Stadt handelte.
Ares war zum ersten Mal hier, und aller Wahrscheinlichkeit würde er niemals mehr zurückkommen. Das lag weniger an Taucha selbst, das sicherlich Charme hatte, wenn man sich näher umschaute. Doch an der stark befahrenen Straße fehlte jegliches Flair.
Das gesuchte Schnellrestaurant lag unübersehbar in der Nähe der Haltestelle, genau einem Hotel gegenüber.
Er ging los, die Tasche in der Hand, und bewegte sich auf den Treffpunkt zu.
Merkwürdigerweise war er ruhig.
Vollkommen ruhig.
Die sich wiederholenden Träume von jener Nacht mit dem Messermann hatten ihre Macht verloren, seit
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