Totenblick: Thriller (German Edition)
aussetzen.
Hammer verspürte einen unbändigen Drang, durch den Wolkenbruch zu laufen: Er wollte die Gefühle der Schuld und der Angst abwaschen.
Schuld, weil er Herolds Tod nicht hatte verhindern können. Ganz dicht hatte sein Streifenpartner neben ihm gestanden, Hammers Hand hatte noch seine kugelsichere Weste zu fassen bekommen. Aber die hereinfahrende Tram hatte Kopf und Schulter des kippenden Polizisten getroffen und ihn mit einem lauten Knacken herumgeschleudert, vor die Räder geworfen und …
Hammer würgte.
Er roch das Blut, das sich in einer großen Lache auf den Gleisen und als Spritzer auf dem Bahnsteig verteilt hatte. Irgendein Teil der Tram hatte Herolds Seite aufgerissen, die Innereien waren herausgequollen wie fette, verschlungene, rotverschmierte Riesenregenwürmer.
Trauma nannte man das, woran der Polizeimeister litt.
Hammer keuchte und zog zitternd den heißen Tee, in dem er eine Schmerztablette auflöste. Die achte heute. Das Stechen in seinem Schädel ließ nicht nach, inzwischen schmerzte auch sein Magen – Nebenwirkungen des Medikamente-Overkills.
Sein Blick wanderte wieder hinaus, zu den fallenden Tropfen.
Blieb noch die Angst.
Man hätte das Ereignis als tragisch und Unfall erklären können – wäre dieser Wisch nicht gewesen.
Gefunden hatte ihn Kommissarin Schwedt, die zur SoKo Bildermord gehörte. Er lag vollkommen unscheinbar neben einer Wartebank an der Tramstation, etwa auf Höhe des Unfallortes, und war gestaltet wie der Flyer einer Metal-Band.
Zu sehen war der Schriftzug TOTENBLICK, darunter stand: Heute! Hier! Und noch öfter! Als Hintergrundbild diente das Makrofoto eines Auges.
TOTENBLICK.
Die Kurzfassung der Drohung, die Kriminalhauptkommissar Rhode vor Wochen an dem außergewöhnlichen Tatort gefunden hatte: der Mord an dem Pianisten, der wie ein klassisches Gemälde inszeniert gewesen war.
Rhode war es auch gewesen, der ihn von dem Flyer in Kenntnis setzte. Die ersten Recherchen hatten ergeben, dass keine Band namens Totenblick existierte oder in Leipzig auftrat. Die Kriminaltechnik ermittelte, dass es sich bei der Makroaufnahme um Armin Wolkes Auge handelte.
Es gab keinen Zweifel: Ein Wahnsinniger schlich durch Leipzig.
Man hatte den Polizeimeister gebeten, vorsichtig zu sein, bis der Fall geklärt war. Hammer konnte der Nächste auf der Liste sein.
Er sah auf seine Pistole, eine Heckler & Koch P 10, die geladen und gesichert vor ihm auf dem Tisch lag. Ihn würde der perverse Verrückte nicht bekommen!
Inzwischen waren die Aufnahmen der Überwachungskamera am Bahnsteig ausgewertet, aber es gab nichts Hilfreiches. Zu viel Gedränge, zu viel Schatten. Es war nicht einmal zu sehen, von wo der Stoß erfolgt war, der Herold aus dem Gleichgewicht brachte.
Ohne diesen Zettel hätte man an einen Unfall geglaubt, doch der Mörder wollte, dass man verstand, wer die Verantwortung trug.
Hammer überlegte, wer den toten Armin Wolke zuerst gesehen hatte.
Er?
Beide gleichzeitig?
Es ergaben sich zig Fragen aus der TOTENBLICK- Drohung.
Die wichtigste: Würde der Mörder alle umbringen, die der Leiche in die Augen gesehen hatten?
Wie fand er heraus, wer die Personen waren?
Hatte er in der Nähe gewartet und die Polizisten beobachtet?
Wie lange lag er auf der Lauer?
Oder beschränkte er sich darauf, nur die Ersten am Tatort zu jagen?
Rhode hatte ihm versichert, dass die SoKo Bildermord diesen Fragen nachging. Ein SpuSi war nur dazu abgestellt worden, den Tatort sowie das Umfeld noch einmal genauestens zu überprüfen. Hammers Bitte, dem Team anzugehören, wurde abgelehnt, weil er zu dicht an den Geschehnissen dran sei. Als Person. Und emotional.
Er gab einen leisen Stöhnlaut von sich und raufte sich die gelockten hellen Haare. Er unterdrückte den erneuten Wunsch, ins Freie zu gehen, sich in den Regen zu stellen und einfach alle Gefühle abwaschen zu lassen, die an ihm nagten und zerrten. Es würde nicht funktionieren.
Die Verzweiflung gebar einen neuen Gedanken: Vielleicht beobachtete ihn der Wahnsinnige wirklich, und er konnte ihn anlocken und …
Hammers Blicke richteten sich auf die Pistole. Jede Unternehmung war besser als herumzusitzen.
Er steckte die P 10 ein, warf sich den Mantel über und verließ mit klopfendem Herzen die Wohnung in der Pfaffendorfer Straße. Dabei griff er vor Aufregung zuerst an der Klinke vorbei. Sie hatten alle Griffe in der Wohnung senkrecht montiert, weil die Kleinste sonst die Türen öffnen konnte. Dadurch war das
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