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Totenblick: Thriller (German Edition)

Totenblick: Thriller (German Edition)

Titel: Totenblick: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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aus Apfel und Vanille. Die Rauchschwaden hingen wie Morgennebel im Raum, bildeten kleine Bänke und verflüchtigten sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund, um sich sogleich wieder neu zusammenzufügen.
    In dem altertümlichen Licht wirkten die Bilder an den Wänden, die Poster, die Abzüge und Fotografien, als hingen sie in einem zu kleinen Museum für wahnsinnige Kunst: Todesdarstellungen. Mittelalterliche, frühneuzeitliche, gegenwärtige, aus Kriegen, von Folterungen oder Unfällen. Zufällig oder absichtlich festgehalten. Stets fatal.
    Die wechselnden Darstellungen auf den vier gewaltigen LED-Bildschirmen sorgen für gelegentliche Bewegung. Die Leuchtkraft war stark reduziert, um den Raum nicht zu sehr zu erhellen. Die Motive sprangen jeweils alle zehn Minuten um, doch sie unterschieden sich nicht von den Bildern um die Monitore herum.
    Er genoss diese Momente im Raum der Inspiration, wie er das Zimmer nannte. Langsam nahm er das Mundstück zwischen die Lippen und sog daran; die Shisha blubberte. Das bauchige Glasgefäß füllte sich mit neuem Rauch, das Wasser schien zu kochen.
    Er thronte in einem Ledersessel, schräg mit dem Rücken zum Fenster und die Füße auf einen Hocker gelegt, die orientalische Pfeife rechts neben sich. Von hier aus hatte er den besten Blick auf alles.
    Behutsam atmete er aus, der Rauch quoll in einem dicken Strom schlangenhaft aus seinem Mund und verteilte sich.
    Befreiung.
    Das war das Wort, das ihm als Erstes in den Sinn kam, nachdem er sein Kunstwerk veröffentlicht hatte. Endlich den Mut gefunden hatte.
    Das Publikum in Deutschland war kritisch, und man würde alles genau inspizieren: vom eingesetzten Material bis zur Nachahmung der Handschrift. Wusste man es überhaupt zu schätzen, welchen Aufwand er betrieb?
    Nun war es getan.
    Es war gut.
    Mehr als gut. Sowohl die Arbeit als auch sein innerer Zustand.
    Metaphorisch ausgedrückt: Atlas musste die Welt nicht mehr tragen, Sisyphus hatte den runden Stein den Hügel nach oben gerollt – doch die Euphorie würde die Schatten und die Unruhe nur kurze Zeit vertreiben. Daran ließ sich nichts ändern: Atlas bekam einen neuen Globus auf die Schultern gesetzt, und auf Sisyphus warteten noch etliche Kugeln am Fuße des Berges.
    Hinzu kam sein Ehrgeiz: Er wollte das Publikum, die Betrachter, die Besucher seiner Ausstellung mit neuen, noch ausgefeilteren Motiven verblüffen. Er weidete sich an ihrem Erstaunen und Erschrecken.
    Darum ging es.
    Darum ging es ihm immer: zeigen, beeindrucken.
    Rastlosigkeit zeichnete jeden Künstler aus. Wer sich auf einem geschaffenen Werk ausruhte, war nie von Leidenschaft ergriffen worden. Nach den Gastspielen in verschiedensten Ländern, in denen er probeweise Vernissagen eingerichtet hatte, machte er halt in Deutschland. Seine Heimat war reif für ihn und musste aufgerüttelt werden, um aus der Trägheit zu erwachen.
    Das Grauen und die Ängste gehörten nicht ihm alleine.
    Er wollte teilen, musste teilen!
    Jeder sollte ihm helfen, den Globus zu stemmen und den Stein den Hang hinaufzuwälzen. Schließlich hatten sie ihn zu Atlas und Sisyphus gemacht.
    Alle!
    Alle hatten hingeschaut, mehr gewollt, mehr verlangt. Details, bis ins Kleinste, bis ins Intimste, bis dem Sterben das letzte Geheimnis entrissen war.
    Er sog erneut am Mundstück, dieses Mal so lange, bis es nicht mehr ging. Die Pfeife schwang durch das Blubbern, vibrierte und klirrte.
    Als seine Lungen sich gefüllt hatten, hielt er den Atem an. Sein umherschweifender Blick fiel auf ein Bild, das er bewunderte.
    Er wusste genau, wann er es aufgehängt hatte. Gleich zu Beginn seines Einzugs war er mit der Vorlage zu einem Auftragsmaler gegangen und hatte es sich anfertigen lassen. Manchmal genügte ein Poster, manchmal musste es mehr sein.
    Dieses Gemälde gehörte in die Kategorie »mehr«.
    Er betrachtete es versonnen, spürte die Wirkung des Nikotins als leichten Schwindel. Mit einem leichten Pfeifton entwich der Rauch aus seinem Mund.
    Die Entscheidung für sein nächstes Kunstwerk war gefallen. Die Neugier, ob die exklusiven Betrachter dieses Mal auf seine raffiniert verborgenen Hinweise kamen, gesellte sich zum Reiz der Herausforderung.
    Bislang war er von ihnen enttäuscht.
    Auch die anhaltende Exklusivität vom Tod des Marat ärgerte ihn, obwohl er damit gerechnet hatte.
    Das würde sich ändern lassen.
    Er legte das Mundstück auf den Boden, erhob sich und verließ den Raum der Inspiration, der ihm hervorragende Dienste geleistet hatte.

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