Totenblick: Thriller (German Edition)
der KarLi und der Gottschedstraße fand man hier die besten Möglichkeiten, um sich abends zu zerstreuen.
Rhode trug seinen schicken grauen Anzug zusammen mit einem weißen Hemd, eine schwarzsamtene Fliege saß perfekt gebunden am Kragen. Er hatte sich mit seiner Frau einen Besuch in der Oper gegönnt, um abzuschalten und die Gedanken vom Bildermordfall zu lösen. Das gelang auch zu seiner großen Erleichterung.
Danach wollte sich seine Frau noch mit ein paar Freundinnen treffen.
Rhode hatte keine Lust, schon nach Hause zu gehen, und so kehrte er in einer Bar ein und gönnte sich einen Grog.
Die Heizpilze unter den Sonnenschirmen tickten und verbreiteten leise fauchend eine angenehme Wärme. Obwohl es empfindlich kühl war, drängten sich die Nachtschwärmer auf den Stühlen im Außenbereich der zahlreichen Gaststätten. Das Klirren der Gläser und das Klappern von Besteck und Geschirr klangen durch die Gasse. Der regenfreie Spätherbstabend wollte genutzt sein. Aus dem nahen Irish Pub erklangen die Töne von Livemusik. Lebensfreude pur.
Rhode nippte an seinem heißen Getränk und fühlte den Alkohol bereits. Die Hitze der Heizgeräte wallte auf seine schwarzen Haare hinab, so dass er beinahe befürchtete, sie könnten verschmurgeln.
Er trank selten, erstens weil es ihm nicht schmeckte, zweitens weil sein Spezial-ADHS noch mehr Party feierte, sobald sein Pegel auf 0,1 stieg. Sein Arzt wusste nicht warum; die meisten seiner Patienten mit der Krankheit wurden von Alkohol müde.
Rhode betrachtete den Dampf, der aus dem Glas aufstieg. Er dachte an Lackmann, der unentwegt trank, viel trank.
Sie waren seit über zehn Jahren Kollegen und redeten sich immer noch mit Nachnamen an. Es gab niemanden im Kommissariat, der den 61-Jährigen Karsten nannte. Und es gab auch niemanden, der in dem Alter noch immer Kriminalkommissar war. Die niedrigste Stufe.
Alle wussten, dass Lackmann trank; seit sich seine depressive Frau umgebracht hatte, war es nicht weniger geworden. Man hatte ihn durch die Dezernate der Kripo gereicht, von eins bis vier, aber nirgends wurde er heimisch. Es gab für die Vorgesetzten immer Gründe, ihn abzuschieben, und durch seine Sauferei bot er eine leichte Angriffsfläche – obwohl er nicht der Einzige mit einem Alkoholproblem war. Es klang nach Klischee, bedeutete aber häufig Realität. Der Druck und das, was sie im Job sahen, ließ manche Kolleginnen und Kollegen schneller zur Flasche greifen.
Seit einem Jahr gehörte Lackmann zu Rhodes Kommissariat. Bislang funktionierte er, und es gab zwei- bis dreimal im Monat lichte Momente, in denen bei ihm Umsicht, Entschlossenheit und sogar Schläue aufblitzten. Er hatte allerdings nicht rausfinden können, ob Lackmann in diesen Fällen komplett nüchtern oder eher stärker betrunken war als üblich.
Alkohol ist eine Scheißerfindung. Ihm verging die Lust auf den Grog, und er bestellte sich stattdessen einen spritfreien Cocktail.
Vor ihm zogen die Spaziergänger und Kneipenfreunde in langen Schlangen vorbei, es wurde gelacht, geraucht und geplaudert.
Die Lebendigkeit machte den Ort für Rhode so schön. Wenn man sich beruflich ständig um Tote kümmern musste, schätzte man das Leben umso mehr. Diese Weisheit stammte nicht von ihm, sondern von Bestatter Korff, aber sie stimmte! Rhode lächelte beim Anblick der Nachtschwärmer. Wenn man wollte, konnte man durch die Höfe und Durchgänge in Leipzigs großen Innenstadtbauten gehen und stand plötzlich vor einem Kabarett oder einem Atelier oder einem Restaurant, das man noch nicht kannte. Die schöne Stadt bot viel Abwechslung.
Dann tauchte Schwedt plötzlich in der Karawane auf. Sie hielt einen großgewachsenen Mann mit kurzen schwarzen Haaren an der Hand und zog ihn hinter sich her. Ihr Begleiter schloss zu ihr auf und küsste sie in den Nacken. Die junge Kommissarin lächelte fröhlich und entdeckte einen freien Tisch in der Nachbarkneipe.
Rhode kannte den Mann nicht. Anscheinend hatte sie einen neuen Freund; er sah netter aus als der letzte Typ, den sie mal zum Dezernatskegeln mitgebracht hatte. Oder hatte er ihn bereits kennengelernt und in seiner gelegentlichen Zerstreutheit schon wieder vergessen? Wie auch immer: Er gönnte ihr das Glück.
Da erkannte sie ihn, hob grüßend die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihrem Anhängsel, der daraufhin den freien Tisch okkupierte.
Schwedt kam zu Rhode gelaufen und setzte sich voller Elan. Sie war aufgekratzt und gut gelaunt.
»Hallo, Chef!«, sagte
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