Totenblick: Thriller (German Edition)
Die Kunst rief nach ihm, verlangte nach ihm, beseelte und beflügelte ihn.
***
Leipzig, Südvorstadt, 5. November
Aileen McDuncan befand sich auf dem Nachhauseweg und trat gemächlich in die Pedale. Der leichte Nieselregen störte sie nicht, sondern erinnerte sie eher an die Heimat.
Sie hatte im KillyWilly mit ein paar Freunden aus Schottland gefeiert, der Pub eignete sich hervorragend dazu. Morgen würden die Freunde ihren Trip durch Europa fortsetzen, Aileen dagegen blieb.
Sie absolvierte ein Auslandssemester und hatte sich Leipzig dafür ausgesucht, was keiner in Glenfarg verstanden hatte. Alle dort wollten nach Berlin oder München. Aileen hatte sich bewusst für Leipzig entschieden, wegen der Überschaubarkeit und dem extrem hohen Kulturangebot mit zahlreichen kleinen Bühnen wie das Horns Erben oder das Feinkost, beide gleich um die Ecke. Sie mochte die Stadt und die Menschen.
Abgesehen davon lag hier Auerbachs Keller, der Auerbachs Keller, der in Faust eine Rolle spielte. Da sie nun mal Goethe liebte und wiederum mit Frankfurt nichts anfangen konnte, kam sie um Leipzig nicht herum.
Aileen fuhr die KarLi entlang und befand sich in Höhe der Haltestelle LVB/Hohe Straße, als sich der Regen verstärkte und die Schottin unter einer Markise zum Anhalten zwang. Ganz so sehr wollte sie doch nicht an ihre Heimat erinnert werden.
Die junge Frau stellte das Rad ab und wartete, dass der Guss nachließ.
Mit beiden Händen wrang sie ihre langen, hellrötlichen Haare aus; dabei spürte sie, dass der letzte Whisky seine Wirkung nicht verfehlte. Whisky ohne e, darauf legte sie Wert, denn es war ein schottischer Single Malt.
Aileen glaubte im Fallen der Tropfen einen Rhythmus auszumachen und summte dazu eine schottische Weise.
Die Linie 11 rauschte rumpelnd vorbei, die Autos rollten über die nasse Fahrbahn und wirbelten Gischtschauer auf, die bis zu ihrem Unterstand wehten. Hinter den erleuchteten Fenstern der Wohnungen bewegten sich Menschen.
Aileen stellte sich vor, was sie gerade taten: kochen, zu Abend essen, fernsehen – oder Sex haben.
Die 22-jährige Studentin wurde bei dem Gedanken an ihren Verlobten Ian erinnert, der in Glenfarg saß und auf sie wartete. Sie skypten, sie mailten, sie telefonierten, aber nichts konnte die Berührung oder die Wärme seines Körpers ersetzen, wenn er sie umarmte und sie küsste.
Plötzlich, ganz plötzlich kam sich Aileen einsam vor, und Leipzig verlor das Schöne. Gegen die Sehnsucht half nichts. Nicht einmal heimischer Whisky.
Ihre Laune veränderte sich, wechselte ins Melancholische. Ausgerechnet in einem leicht einzusehenden Fenster küssten sich zwei Schatten innig und umschlangen sich.
Aileen sah weg und hoffte, dass der Regen endlich nachließ.
Aber das Wetter beruhigte sich nicht, und allmählich wurde Aileen kalt. Da sie nächste Woche wichtige Klausuren zu bestehen hatte, konnte sie sich keine Krankheit leisten. Das würde sie zu sehr zurückwerfen. Also lieber völlig durchnässt nach Hause kommen und sofort unter die Dusche, als fröstelnd Minute um Minute immer mehr aufzuweichen. Außerdem wurde sie auf das Paar in dem Zimmer gegenüber neidisch, die beiden waren ungebrochen mit sich am Fenster beschäftigt.
»Lucky ones«, murmelte sie und schwang sich auf den Sattel.
Eine Gestalt trat von hinten an sie heran, überholte sie und setzte ihr das dicke Ende eines Baseballschlägers auf die Brust. »Handy, Brieftasche, Uhr, Schmuck, MP3-Player«, sagte der Mann hastig; vor Kinn und Nase lag ein Schal, die Kapuze seiner Jacke hing ihm tief in die Stirn.
Aileen fluchte. »Ich bin Studentin«, versuchte sie zu handeln. »Ich habe nix.«
Der Räuber stieß sie grob mit dem Schläger an, so dass sie schwankte und mitsamt dem Fahrrad umstürzte.
»Fuckin asshole!« Aileen prallte gegen die Scheibe eines Ladens und rutschte daran hinab; das Fahrrad lag halb auf ihr.
»Du mich auch.« Da war der Maskierte auch schon über ihr, entriss ihr die Tasche, filzte die Finger und Handgelenke mit routinierten Berührungen auf Schmuck. Der Verlobungsring ging an ihn. Kurzerhand kippte er den Inhalt der Handtasche auf den Bürgersteig. Aus dem Geldbeutel nahm er den Zwanziger. Mehr gab es nicht. »Scheiße, du hast nicht mal ein teures Handy«, sagte er missmutig und hob ihr Fahrrad auf. »Blöde Fotze!« Er sprang auf und schoss davon.
»Hey! Gib mir meinen Verlobungsring!« Aileen stemmte sich in die Höhe und wollte dem Räuber zuerst nach, aber er bog schon um die
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