Totenblüte
Hand an den Hals gelegt, eine Schnur darum geschlungen und sie immer fester zugezogen hatte, bis er tot war. Sie schrie nicht auf. Sie wollte ja schließlich kein Theater machen. Doch Gary schien ihre Anspannung zu spüren, denn er löste sich sanft von ihr.
«Entschuldige», sagte sie.
«Du brauchst dich gar nicht zu entschuldigen.»
Sie erzählte ihm, dass sie gerade an Luke gedacht hatte. Luke zu Hause im Bad, ein Fremder, der ihn erdrosselte. «Entschuldige», wiederholte sie. «Ich bin nicht so die Stimmungskanone zurzeit.» Weil sie den Wein zu schnell getrunken hatte, verhaspelte sie sich. Sie musste lachen, und er lachte mit.
«Wir machen einfach alles so, wie du es möchtest», sagte er. «Soll ich dich nach Hause fahren?»
Julie dachte daran, wie einsam sie sich in ihrem Doppelbett fühlen würde. Ihre Mutter hatte das Bett am Morgen natürlich gemacht, das Laken würde ganz glatt gezogen sein, die Bettdecke unter die Matratze gestopft. Sie selbst machte ihr Bett nie; sie hatte es lieber, wenn die Laken weich und ein wenig zerwühlt waren. «Nein», sagte sie. «Kriege ich noch einen Schluck Wein?»
Er schenkte ihr ein weiteres Glas ein.
Sie wurde mit einem Kater wach und stellte fest, dass sie auf dem Sofa lag, bis auf die Schuhe komplett angezogen. Das Licht wirkte fremd und kam aus einer anderen Richtung, sodass sie gleich wusste, dass sie nicht zu Hause war. Von der Küche her duftete es nach frischem Kaffee. Anscheinend hatte Gary darauf gewartet, dass sie aufwachte, denn jetzt kam er mit einem Becher und einem Teller Toast ins Zimmer.
«Du hättest auch das Bett haben können», sagte er. «Aber ich konnte dich nicht hochheben.»
«Mein Gott, ich fühle mich furchtbar. Wie spät ist es denn?» Sie fühlte sich tatsächlich furchtbar, allerdings war das Gefühl nichts anderes als ein gewöhnlicher Kater, ihr war schwummerig, sie war ein bisschen benommen, undirgendwie war das beruhigend – ein Zeichen, dass alles langsam wieder normal wurde. Und sie hatte ja auch geschlafen, ganz ohne Schlaftabletten.
«Zehn Uhr.»
«Ach du lieber Himmel! Laura muss längst in der Schule sein. Meine Mutter bringt mich um.» Sie schwang die Beine vom Sofa auf den Boden, damit er sich neben sie setzen konnte. «Hör mal», fing sie an. «Wegen gestern …»
«Es war ein sehr schöner Abend.»
«Ehrlich? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.»
«Es ist einfach schön, mit dir zusammen zu sein. Sogar, wenn du betrunken bist. Und wir haben ja schließlich jede Menge Zeit.»
«Ja», sagte sie leise. «Das hoffe ich.»
Julie fuhr die schöne Strecke zurück, an der Küste von Whitley Bay und an St. Mary’s Island vorbei, und sang dabei zu einer der Kassetten, die ihr Vater für sie zusammengestellt hatte. Motown-Songs. Sie versuchte, den Moment, in dem sie ihr Haus wieder betreten musste, möglichst lange hinauszuzögern. Während sie hier so langsam in ihrem Fiat dahinzuckelte, dass der Typ in dem Opel Astra hinter ihr ärgerlich auf die Hupe drückte, konnte sie sich fast einreden, dass dieser ganze Albtraum eigentlich jemand anders passiert war.
Als sie die Haustür aufschloss, schoss ihre Mutter aus der Küche. Julie dachte an eine Figur aus einem dieser kuckucksuhrähnlichen Apparate. Kein Kuckuck natürlich. Eher eine Bauersfrau mit Schürze, die mit dem Kopf wackelte und die Hände rang.
«Gott sei Dank! Wo bist du bloß gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.»
«Ich habe dir doch gesagt, dass ich bei Lisa übernachte.» Und das war ja nicht mal gelogen.
«Aber ich bin davon ausgegangen, dass du zurück bist, bevor Laura zur Schule muss.» Schon wieder ein Vorwurf.
«Tja, ich habe wohl ein bisschen viel getrunken gestern. Ist sie gut weggekommen?»
«Sie hatte nicht mal Zeit zum Frühstücken.»
«Sie hat nie Zeit zum Frühstücken.»
«Du hast sicher auch noch nichts gegessen.» Damit verschwand sie wieder in der Küche, setzte Wasser auf und machte sich daran, Schinken zu braten. «Den habe ich von dem guten Metzger in Monkseaton. Da besteht das Fleisch wenigstens nicht nur aus Wasser und Fett.» Und obwohl Julie allein vom Geruch schon fast übel wurde, setzte sie sich an den Küchentisch, wartete, bis ihre Mutter ihr das Schinkensandwich hinstellte, und zwang sich dann, es zu essen. Wie eine Buße dafür, dass sie sie angelogen hatte. Wie eine Buße, weil sie sich ein paar Stunden gegönnt hatte, in denen sie nicht ständig an Luke gedacht hatte.
Erst als ihr Teller leer
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