Totenblüte
war, brachte ihre Mutter ihr die Post zum Durchsehen. Diesmal war es kein so großer Stapel. Obenauf lag ein länglicher weißer Umschlag.
«Sieh mal», sagte Julie, um ein bisschen zu plaudern. «Das ist für Laura.»
Ihre Mutter, die bereits mit Gummihandschuhen an der Spüle stand, drehte sich um. «Wie nett. Vielleicht von einer Freundin aus der Schule?»
«Ja, vielleicht.» Doch jetzt hatte Julie die rundlichen Druckbuchstaben gesehen
.
Sie erinnerte sich, wie Vera reagiert hatte, als sie ihr eine ähnliche Karte gezeigt hatte, die für Luke gekommen war. «Trotzdem rufe ich vielleicht besser mal Inspector Stanhope an.»
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Als der Anruf von Julie kam, saß Vera im Büro und las. Am Abend zuvor hatte sie eine Kurzgeschichte von Samuel Parr begonnen, die sie bisher weder gelesen noch im Radio gehört hatte. Sie war in dem Buch erschienen, das sie auf dem Weg zu dem Treffen mit Ben Craven aus der Bücherei ausgeliehen hatte, eine Kurzgeschichtensammlung von einem kleinen Verlag mit Sitz in Hexham. Der Titel,
Schelme und Liebhaber
, kam ihr irgendwie bekannt vor, ihr fiel aber nicht ein, woher sie ihn kennen konnte. Dem Klappentext zufolge hatte die Sammlung irgendeinen Preis gewonnen, von dem Vera noch nie gehört hatte. Die Geschichte, die sie damals im Radio gehört und eigentlich gesucht hatte, fand sie zwar nicht, doch Vera hatte trotzdem zu lesen begonnen. Nach ein paar Absätzen war sie eingeschlafen, doch die Eröffnungsszene hatte sie die ganze Nacht nicht losgelassen. Vielleicht war ja das viele Bier in ihrem Blutkreislauf daran schuld. Die Geschichte beschrieb die Entführung eines jungen Menschen. Eine fast schon liebevolle Beschreibung. Ein Sommermorgen. Die Sonne schien. Die Blumen am Straßenrand wurden alle einzeln benannt. Eigentlich war es eher eine Verführungsszene als ein Akt der Gewalt. Das Geschlecht des entführten Jugendlichen blieb bewusst uneindeutig, doch Vera hatte Luke dabei vor Augen. Die Schönheit des Wesens wurde ausführlich erörtert. Eine Erscheinung, nach der man sich auf der Straße umdrehte. Und Luke mit seinen langen Wimpern und dem grazilen Körper hätte gut auch ein Mädchen sein können. Halb Kind, halb Mann, war auch er ein ambivalentes Geschöpf.
Auf dem Revier hatte Vera ihr Team zur morgendlichen Besprechung zusammengerufen. Joe Ashworth hatte sämtliche Autovermietungen in North Tyneside abgeklappert.
«Niemand namens Clive Stringer und auch niemand, auf den die Beschreibung passen würde, hat letzte Woche ein Auto gemietet, weder am Mittwochabend noch am Donnerstag. Damit wäre er dann wohl aus dem Schneider.» Das schien ihn zu enttäuschen.
Vera hatte fast Mitleid mit ihm. Sie erzählte von ihrem Gespräch mit Peter Calvert. «Wir wissen inzwischen, dass er Lilys Liebhaber war. Wir wissen auch, dass er ein notorischer Lügner mit einem krankhaften Interesse an hübschen jungen Frauen ist. Und wir wissen, dass sie ihren silbernen Ring mit dem Opal im Gartenhaus der Calverts hinterlassen hat. Allerdings können wir nicht beweisen, dass sie ihn nicht vielleicht doch tags zuvor bei der Besichtigung des Häuschens verloren hat. Und wir können auch keinerlei Verbindung zwischen ihm und Luke Armstrong erkennen.» Anschließend hatte sie dem Team die Beziehung zwischen Lily und Kath erläutert. «Hat es etwas zu bedeuten, dass die zweite Mrs Armstrong uns nichts von ihrer Bekanntschaft mit Lily Marsh erzählt hat? Weiß der Himmel. Für uns ist es natürlich erst einmal bedeutsam. Aber wir stecken ja auch mitten in den Ermittlungen. Vielleicht wollte Kath die Sache einfach nur vergessen und nach vorne blicken.»
Danach hatte Vera sich in ihr Büro zurückgezogen. Sie wusste, dass es eigentlich viel Wichtigeres zu tun gab, aber sie sagte sich, dass ihr Team sich ja schon mit diesem Wichtigeren beschäftigte. Sie vertiefte sich wieder in die Geschichte mit der merkwürdigen Hauptfigur. Und dann klingelte das Telefon.
«Julie Armstrong ist am Apparat, Ma’am. Sie will mit Ihnen reden.»
Vera hörte schweigend zu, während Julie ihr den Umschlag und die Schrift beschrieb. «Ich wollte Sie eigentlichnicht damit belästigen. Aber beim letzten Mal schienen Sie das ja wichtig zu finden. Wir haben den Umschlag nicht angerührt. Also, meine Mutter hat ihn natürlich angefasst, als sie ihn von der Haustür reingebracht hat.»
«Hat Laura ein Handy?»
«Natürlich, die Kinder haben alle Handys heutzutage.»
«Rufen Sie sie an und sagen Sie
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