Totenblüte
ihr, sie soll in der Schule bleiben. Sie darf auf keinen Fall mit irgendwem nach draußen gehen, bis Sie da sind, auch nicht mit Leuten, die sie kennt. Wir schicken Ihnen einen Wagen, dann können Sie sie abholen fahren. Ich verständige inzwischen die Schule. Lassen Sie den Brief, wie er ist. Machen Sie ihn auf keinen Fall auf.»
«Sie hat ihr Handy bestimmt ausgeschaltet», sagte Julie erschrocken. «Das ist die Regel. Sie dürfen es im Unterricht nicht anhaben.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, Herzchen. Schicken Sie ihr einfach eine SMS und hinterlassen Sie ihr eine Nachricht auf der Mailbox. Um alles andere kümmere ich mich.»
Vera legte auf und nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln. Julie hatte sie mit ihrer Panik angesteckt; sie spürte, wie ihre Gedanken durcheinandergerieten, spürte, wie das Ekzem, das sie immer wieder plagte, zu jucken begann. Sie griff wieder zum Hörer, rief das Gymnasium in Whitley Bay an und bearbeitete die übereifrige Sekretärin so lange, bis diese sie zum Schuldirektor durchstellte. Der begriff den Ernst der Lage sofort, obwohl es Vera vorkam, als triebe ihn der Gedanke an die Schlagzeilen der Boulevardpresse –
Junges Mädchen aus Schule entführt: Wie konnte das passieren?
– mindestens ebenso sehr um wie die Sorge um Laura. Sofort schimpfte sie sich selbst eine zynische alte Schachtel. Der Direktor versprach ihr, Laura ausfindigzu machen und so lange bei sich im Büro zu behalten, bis Julie mit dem Polizeiwagen da war. Sobald das erledigt war, würde er Vera zurückrufen. Vera blieb am Schreibtisch sitzen und wartete. Ihr Blick wanderte zu dem aufgeschlagenen Buch, dem stimmungsvollen Schutzumschlag mit den matten Blau- und Grüntönen. Dann klingelte das Telefon.
«Ja?»
Der Direktor meldete sich nicht mit Namen. Vera hörte, dass seine Stimme zitterte, sie spürte, dass auch er in Panik geriet. «Sie ist nicht in die Schule gekommen. Sie steht als fehlend im Klassenbuch.»
«Und niemand ist der Sache nachgegangen?»
«Das machen wir nie. Zumindest nicht am ersten Tag. Und da wir ja auch wissen, was mit ihrem Bruder passiert ist, hat jeder Verständnis dafür, wenn sie hin und wieder etwas Zeit für sich braucht.» Er war bereits dabei, sich zu rechtfertigen, vor ihr und vor der erbarmungslosen Presse, die nach einem Schuldigen rufen würde. Er hatte alle Ausreden schon parat.
«Natürlich», sagte Vera. «Das ist ja auch nicht Ihre Schuld.»
Aber meine vielleicht? Hätte ich das nicht voraussehen sollen?
«Hat sie gelegentlich mal geschwänzt?»
«Nein. Sie ist sehr zuverlässig. Sehr fleißig. Eine unserer besten Schülerinnen.»
«Können Sie schon mal ein bisschen herumfragen, bei Freundinnen oder Mitschülern, mit denen sie normalerweise im Bus fährt? Ich schicke jemanden vorbei, um die Aussagen aufzunehmen.» Sie beschloss, Ashworth hinzuschicken. Er konnte gut mit jungen Mädchen.
«Könnten Sie das möglichst diskret machen?», bat der Direktor. «Also, ohne Blaulicht und Uniform, meine ich. Ich möchte eine Massenhysterie vermeiden, nachher nehmendie Eltern noch ihre Kinder von der Schule. Luke war ja auch Schüler bei uns.»
Vera horchte auf. «Dann kannten Sie ihn also? Näher, meine ich, nicht nur als Namen oder Gesicht.»
«Ja. Ich interessiere mich sehr für Schüler wie ihn. Schüler, die es schwer haben. Das hat mich ursprünglich zum Unterrichten gebracht. Und manchmal muss man sich das wieder vergegenwärtigen. Ich habe ihn immer ein bisschen beobachtet.»
«Fällt Ihnen ein Grund ein, weshalb ihn jemand umbringen wollte?»
«Nein!» Die Antwort kam ebenso rasch wie nachdrücklich. «Er war etwas schwer von Begriff, aber sonst ein sehr netter Junge. Die meisten Leute waren gern mit ihm zusammen.» Der Direktor suchte nach den richtigen Worten. «Er war vollkommen harmlos.» Die Beschreibung stellte ihn zwar selbst nicht zufrieden, doch Vera verstand, was er meinte.
Als sie bei Julie ankam, stand die Haustür offen, und Julie war im Aufbruch. Die Mutter stand drinnen im Flur, Julie hatte sich gerade umgedreht, um sich von ihr zu verabschieden, und Vera nutzte die Zeit, um auszusteigen und sich Julie in den Weg zu stellen.
«Eine kleine Änderung im Ablauf», sagte sie ruhig. «Kein Grund zur Eile. Gehen wir doch wieder ins Haus. Könnten wir vielleicht einen Tee bekommen, Mrs Richardson?»
Sie führte Julie ins Wohnzimmer, setzte sie auf das Sofa. «Laura ist nicht in der Schule, Herzchen. Sind Sie sicher, dass sie in den Bus
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