Totenblüte
alles angefangen.» Wieder Charlie. So munter hatte Vera ihn überhaupt noch nie erlebt.
«Na, das wird aber ein ganz schöner Überwachungsaufwand, den gesamten Tyne im Auge zu behalten.» Joe schaute in die Runde. Er wollte nicht ungerecht sein, fand aber, dass weitere Einschränkungen nötig waren. Joe war eben praktisch veranlagt.
«Aber recht hat er schon», sagte Vera. «Da hat alles angefangen.» Sie fragte sich, ob sie wohl einen weiteren Besuch in der Haftanstalt Acklington rechtfertigen konnte, um mit Davy zu reden, der inzwischen vielleicht ja Informationen für sie hatte, beschloss dann aber, dass das wartenmusste. Falls ihre schlimmsten Befürchtungen doch eintrafen, wollte sie in Julies Nähe bleiben.
«Also, wo genau?» Charlie hockte vorgebeugt auf der Kante ihres Schreibtischs. Der Fall schien auch ihm an die Nieren zu gehen. Vera überlegte, ob er vielleicht selbst eine Tochter hatte, und stellte fest, dass sie ihn nie danach gefragt hatte. Sie redete nicht gern mit anderen Leuten über deren Kinder. Es überkam sie dann oft so ein hohles Neidgefühl. «Am Fish Quay in North Shields, wo Tom Sharp seinen Unfall hatte? Da gibt es doch diese kleine Bucht, wo die Boote festgemacht werden.»
«Aber da ist immer bis zum frühen Morgen Betrieb. Die ganzen Bars und Restaurants. Und die Leute, die in den schicken neuen Wohnblocks wohnen.»
«Wenn ihm das gelänge, wäre das allerdings ein Statement», bemerkte Vera.
«Muss es eigentlich unbedingt ein ‹Er› sein?» Das kam von Holly. Sie wirkte von allen am wenigsten beteiligt. Sie ist noch zu jung, dachte Vera, um ihre Sterblichkeit zu fühlen. Und so mit sich selbst beschäftigt, dass die Tragödien fremder Leute sie nicht anfechten.
«Rein körperlich wäre durchaus auch eine Frau in der Lage, die beiden zu erdrosseln. Aber Lily über die Felsen bis zum Tümpel zu tragen, das ist schon wieder etwas anderes. An wen dachten Sie denn?»
«Kath Armstrong», sagte Holly. «Sie ist die Einzige, die alle drei Opfer kannte. Und außerdem ist sie Krankenschwester. Da lernt man doch, Patienten zu heben.»
Die Einzige ist sie nicht. Es gibt da noch jemanden
.
«Und was wäre ihr Motiv?» Im Geiste versuchte Vera bereits, selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden. Vielleicht hatte es etwas mit der Bilderbuchfamilie zu tun. Lily, Luke und Laura waren alle drei in die kleine Familiein dem hübschen Haus in Wallsend eingedrungen. Waren die Morde am Ende Kaths krankhafter Versuch, ihre kleine Tochter zu beschützen?
Sie rief sich den Tyne in North Shields am späten Abend vor Augen. Die Schatten der Häuser auf dem Wasser, die Hafenmeisterei, der verlassene Fischmarkt, die Lichter am südlichen Ufer. Rund um den Kai wirkte das Wasser dunkel und ölig. Vera stellte sich die schattenhafte Gestalt eines Mädchens vor, ein bloßer Umriss über den Lichtern, die sich im Wasser spiegelten. Aber eine Leiche trieb doch nicht auf der Wasseroberfläche. Zumindest anfangs nicht. Vielleicht würde der Mörder sie ja auf irgendetwas befestigen. Auf einer Palette vielleicht? Einem Fischerkorb? Oder auf einem kleinen Boot? Und dann würde er sie mit Blumen bestreuen. Was für ein Anblick! Vera versuchte, den Kopf wieder frei zu bekommen, ob ihr nicht mögliche andere Inszenierungen, andere Schauplätze einfielen.
«Gut. Gibt es noch andere Ideen?»
«Was ist mit dem See in Seaton?», fragte Joe. «Der ist recht nah an der Stelle, wo das Mädchen vermutlich entführt wurde, und wenn mich nicht alles täuscht, gibt es dort auch einen Unterstand. Die Vogelkundler kennen sich da sicher aus.»
«Da haben die Kollegen vor Ort schon nachgeschaut», sagte Charlie. «Sogar als Erstes, weil es eben so nah dran ist und weil sie wussten, dass die Kinder aus dem Dorf sich immer dort verstecken, wenn sie die Schule schwänzen. Aber bis auf einen Haufen leerer Bierdosen und ein paar Graffiti haben sie nichts gefunden.»
Doch Vera dachte sich, dass dem Mörder durchaus eine Umgebung wie der See in Seaton vorschweben konnte. Der See war ursprünglich durch Bodensenkungen im Zusammenhang mit dem Bergbau entstanden, auch wenn inzwischennichts mehr von den Industrieanlagen zu sehen war. Er lag genau zwischen dem Weg, den Laura zur Bushaltestelle genommen hatte, und dem Meer.
Als Kind hatte Vera einmal einige Zeit mit Hector in dem dortigen Unterstand verbracht. Mit Sicherheit hatte es einen Grund für diesen seltenen Ausflug ins Flachland gegeben, und sie war für einen Moment
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