Totenblüte
Sonntagnachmittag damit zugebracht, das Wildbret zuzubereiten, mit genügend Wurzelgemüse, dass es schön saftig blieb, Lorbeerblättern aus dem Garten und viel Rotwein. Eigentlich hatte sie geglaubt, es wäre längst aufgebraucht, und sie freute sich darüber, diese Portion noch gefunden zu haben: ein ganz ungebrochenes Glücksgefühl, wie man es im Erwachsenenleben nur selten spürt.
Während sie im Haus herumfuhrwerkte, ließ Vera sich den Armstrong-Fall noch einmal durch den Kopf gehen. Sie fühlte sich in die Beteiligten ein, wie eine Schauspielerin versuchte, die Rollen zu leben. Luke Armstrong begriff sie bereits ganz gut. Julies Erzählungen waren ziemlich eindringlich gewesen, außerdem kannte sie bereits genügend Burschen wie ihn. Meist begegneten sie ihr auf dem Polizeirevier oder in Einrichtungen für jugendliche Straftäter. Sie waren durch das Netz der Gesellschaft gefallen, so wie es auch Luke passiert wäre, wenn er nicht eine Mutter wie Julie gehabt hätte, die bereit war, um ihn zu kämpfen. Lukehatte es schwer gehabt im Leben. Es gab nichts, was ihm leichtgefallen wäre: die Schule nicht, zwischenmenschliche Beziehungen nicht und nicht einmal die ganzen langweiligen Nebensächlichkeiten des Alltags. Wahrscheinlich hatte er die ganze Welt wie durch einen Schleier gesehen. Er hatte nicht verstanden, was um ihn herum passierte. Bestimmt war es ganz leicht gewesen, ihn zu manipulieren. Ein paar freundliche Worte, die Aussicht auf eine nichtssagende Belohnung, schon sah er in Wildfremden seine Wohltäter. Jemand wie er, fand Vera, hätte eigentlich eher bei einer Schlägerei im Pub ums Leben kommen müssen. Sie stellte sich vor, wie leicht es gewesen wäre, ihn zu reizen, bis er schließlich mit der Wut eines Kleinkinds zugeschlagen hätte. Selbst eine Schießerei auf der Straße wäre ihr noch plausibler erschienen. Sicher hatte er häufig unabsichtlich jemanden übers Ohr gehauen, und wäre er so gestorben, hätte man davon ausgehen können, dass jemand eine Rechnung mit ihm beglich oder ein abschreckendes Zeichen setzen wollte.
Doch dieser Mord schien überhaupt nicht zu Lukes Leben zu passen. Es wirkte fast schon respektvoll, wie liebevoll Luke in diese Wanne voll duftenden Badeöls und Blumen gelegt worden war. Vera, die sehr viel phantasievoller war, als man ihr ansah, erinnerte das Ganze an eine Opferhandlung. Ein schöner Junge. Rituelle Verehrung. Und irgendeine literarische Anspielung war sicher auch dabei. Der Englischunterricht in der Schule lag zwar schon lange zurück, doch die Vorstellung hatte sie damals beeindruckt. Der Freitod der Ophelia. Wie viele von Lukes nichtsnutzigen Kumpels und Kontakten hatten wohl
Hamlet
gelesen?
Von Laura hatte sie bisher noch gar kein Bild. Laut ihrer Mutter war sie intelligent und vorlaut. War es glaubhaft,dass sie die ganze Sache verschlafen haben sollte? Den Mord, das Rauschen des Badewassers? Hatte der Mörder überhaupt gewusst, dass noch jemand im Haus war?
Vera versuchte, sich den Ablauf vorzustellen. Jemand stand mit einem Strauß Blumen vor der Haustür. Hatte Luke ihn hereingelassen? Ihn vielleicht sogar gekannt? Und was war dann passiert? Die Tatortbeamten hatten sich nicht festlegen wollen, wo genau der Mord verübt worden war. Unten an der Treppe? Falls das so war, hätte Luke anschließend hinauf ins Bad getragen werden müssen. Das konnte Vera sich nicht vorstellen. Es war einfach nicht logisch. Vielleicht hatte der Mörder Luke ja auch gefragt, ob er das Bad benutzen könne, und Luke hatte ihn nach oben geführt. In dem Fall musste der Mord gleich neben Lauras Zimmer passiert sein. Vera erschauerte bei der Vorstellung, dass das Mädchen einfach weitergeschlafen hatte, während nebenan ihr Bruder gestorben war.
Sie stellte das Essen auf ein Tablett und setzte sich damit ans offene Fenster. Ihre nächsten Nachbarn waren zwei alternde Hippies, die noch immer auf der Suche nach dem guten Leben waren. Sie hatten einen kleinen Hof, zwei Ziegen, eine Milchkuh, ein halbes Dutzend Hühner und eine kleine Herde Schafe, irgendeine seltene Rasse. Sie verwendeten keine Pestizide und verabscheuten die gewerbliche Landwirtschaft, und ihre Heuweide war über und über mit Unkraut zugewuchert. Vera roch das Heu. Ein Schwarm Hänflinge pickte an den Grasähren herum. Sie hatte eine Flasche Merlot geöffnet und schon zwei Gläser davon getrunken. Seit Monaten hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt.
In letzter Zeit war die Arbeit fast nur noch
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