Totenblüte
langweilige Routine gewesen. Doch das hier war etwas anderes, eine Herausforderung, an der sie sich an den einsamenAbenden zu Hause die Zähne ausbeißen, mit der sie sich beschäftigen konnte, anstatt immer nur Kulturradio zu hören. Meine Güte, dachte sie, was bin ich nur für eine armselige alte Schachtel. Ein bisschen schuldig fühlte sie sich schon, weil sie sich so über den Tod eines hübschen Jungen freute. Sie mochte Julie und wusste, dass sie alles für den Jungen getan hatte, was in ihrer Macht stand, aber das hielt Vera trotzdem nicht davon ab, sich für diesen Fall zu begeistern, für die ungewöhnlichen Gegebenheiten am Tatort. Schließlich hatte sie ja auch sonst kaum Freude im Leben. Sie blieb am offenen Fenster sitzen, bis es draußen ganz dunkel und die Weinflasche fast leer war.
Am nächsten Tag rief sie ihr Ermittlerteam zusammen und sprach über Luke, als hätte sie ihn persönlich gekannt.
«Man kennt diese Jungs. Etwas schwer von Begriff. Ein Junge, bei dem man nie genau weiß, ob er einen auch wirklich versteht, wenn man mit ihm redet. Selbst wenn man alles noch einmal wiederholt, kann man sich nicht sicher sein, dass es wirklich ankommt. Dabei war er gar kein schlechter Kerl. Sanftmütig. Großzügig. Er konnte blendend mit den alten Leutchen in dem Heim, wo seine Mutter arbeitet. Aber er stand immer auf der Kippe. Er war nicht schlau genug, um sich selbst irgendwelchen Blödsinn auszudenken, aber eben auch nicht so gewieft, sich nicht ständig von seinen Kumpels irgendwo reinziehen zu lassen. Es waren allerdings immer nur kleinere Vergehen …
Luke war dabei, als ein Freund von ihm ertrank. Joe hat die Einzelheiten und wird sie gleich an alle verteilen. Möglicherweise ist das bloßer Zufall, aber im Augenblick ist es die beste Spur, die wir haben.» Vera schwieg einen Moment. «Um nicht zu sagen, die einzige.»
Joe Ashworth nahm sein Stichwort auf und verteilte seine DIN-A 4-Blätter , und Vera fragte sich plötzlich, ob sie ihn eigentlich zu sehr wie ihren Musterschüler behandelte. Vielleicht mochte er das ja gar nicht? Dummerweise war er so ziemlich der Einzige unter ihren Leuten, bei dem sie hundertprozentig sicher sein konnte, dass er keine Fehler machen würde. Wobei das wahrscheinlich mehr über sie aussagte als über ihre Leute.
Sie nahm den Faden wieder auf. «Der Junge, der bei einer Rangelei am Kai von North Shields ertrunken ist, hieß Thomas Sharp. Ein Sprössling der besagten Sharps. Die Familie ist berüchtigt, wir haben alle schon von ihnen gehört. Der Vater, Davy Sharp, sitzt gerade mal wieder drei Jahre in der Haftanstalt Acklington ab. Beim Tod des Jungen wurde nicht weiter ermittelt, man geht allgemein davon aus, dass irgendwelche Blödeleien aus dem Ruder gelaufen sind. Durchaus möglich, dass sich das alles als irrelevant herausstellt, aber es wäre trotzdem wichtig, Erkundigungen einzuziehen. Hatte Luke vielleicht Kontakte, von denen seine Mutter nichts wusste? Soll das alles vielleicht eine grausige Botschaft sein?»
Sie hielt erneut inne. Sie sprach gern vor Publikum, fand es aber deutlich angenehmer, wenn dieses Publikum auch reagierte. Alle blieben still. «Na?», fragte sie auffordernd. «Weiß vielleicht jemand was darüber?»
Allgemeines Kopfschütteln. Sie wirkten alle wie betäubt, gelähmt von der Hitze. Es war ja auch stickig im Raum, doch Vera war dennoch erstaunt über diesen Mangel an Enthusiasmus. Weswegen waren sie denn dann überhaupt zur Polizei gegangen, wenn nicht wegen solcher Fälle? Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie ihnen eine Heidenangst machte, dass selbst die, die in der Polizeikantine das große Wort führten, in ihrer Gegenwart zu verschüchtertwaren, irgendeine Ansicht zu äußern, die sie womöglich dumm finden könnte.
«Der Tatort», fuhr Vera fort. «Vermutlich ist Ihnen ja inzwischen zu Ohren gekommen, dass der ein klein wenig ungewöhnlich war. Der Junge wurde erwürgt und anschließend in eine gefüllte Badewanne gelegt. Über der Leiche wurden Blumen verstreut. Glücklicherweise hat die Mutter, Julie, das Badewasser nicht abgelassen, als sie ihren Sohn fand. Die Spurensicherung hat Stunden damit verbracht, das Wasser aus der Wanne zu schöpfen und zu konservieren. Vielleicht finden sie ja etwas. Auch das Badeöl wird analysiert. Wenn wir viel Glück haben, ist irgendwo ein Haar des Täters dabei, aber darauf können wir uns natürlich nicht verlassen. Wir müssen herausfinden, wo die Blumen herkommen.
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