Totenblüte
zurück ins Dorf zu fahren. Eigentlich gehörte es natürlich nicht zu ihren Aufgaben, persönlich von Tür zu Tür zu wandern. Das fand zumindest ihr Chef. In ihrem letzten Bewertungsgespräch hatte es geheißen, sie tue sich schwer mit dem Delegieren. Ihr Chef hatte ihr erklärt, ihre Position sei eher strategischer Natur, sie sei dazu da, die eingehenden Informationen zu verwalten. Aber sie musste doch ein Gefühl dafür bekommen, wie die Atmosphäre in dieser Straße war. Und das herauszufinden, dazu eignete sich eben nicht jeder.
Vera musterte die unbewegten Mienen und wartete auf eine Antwort. Wundert es da noch irgendwen, dachte sie, dass ich nicht gerne delegiere?
Schließlich meldete sich Ashworth. Er war eben doch ein Musterschüler, wobei man hinter ihrer beider Rücken wahrscheinlich sehr viel schlimmere Bezeichnungen für ihn fand. «Laut dem Team, das die Haustürbefragung durchgeführt hat, hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt.»
«Was ist mit dem Wagen, den Julie Mittwochnacht in der Straße gesehen zu haben glaubt?»
Ashworth konsultierte seine Notizen. «Der war um neun Uhr abends eindeutig noch nicht da. Um die Zeit hat eine Frau ihre Tochter von den Pfadfindern abgeholt. Sie sagt, das wäre ihr ganz sicher aufgefallen.»
Sonst hatte offenbar niemand etwas zu sagen. Eine Zeit lang blieb alles still. Vera hockte auf dem Schreibtischrand, dick und rund und reglos wie ein Buddha. Sie schloss sogar kurz die Augen und schien ganz in Gedanken versunken. Im Hintergrund hörte man gedämpft die Alltagsgeräusche des Reviers: ein klingelndes Telefon, plötzliches Gelächter. Dann öffnete Vera die Augen.
«Wenn doch nicht der Vater die Finger im Spiel gehabt hat», sagte sie, «müssen wir uns genauer ansehen, was es mit dem Tatort auf sich hat. Das war wie eine Theaterinszenierung. Oder wie eine dieser sogenannten Kunstinstallationen. Tote Schafe. Ein Haufen Elefanten-Dung. Die Sorte Kunstwerk eben, bei dem die Bedeutung wichtiger ist als Schönheit oder die handwerklichen Fähigkeiten, die es erfordert. Wir müssen herausfinden, was uns dieser Künstler sagen will. Fällt jemandem etwas dazu ein?»
Sie glotzten zurück, als wären sie selbst tote Schafe, und diesmal konnte Vera ihnen nicht mal einen Vorwurf machen. Ihr fiel ja auch nichts dazu ein.
KAPITEL SIEBEN
Es war Freitagnachmittag, und auf der zweispurigen Autobahn, die von Newcastle an die Küste führte, staute sich der Verkehr. Die Leute hatten frühzeitig Feierabend gemacht, um noch etwas von der Sonne zu haben. Bei heruntergelassenen Fenstern und lauter Musik hatte das Wochenende bereits begonnen. Luke Armstrongs Vater wohnte ganz in der Nähe der Küstenstraße, in einem großen, neu angelegten Wohnviertel gleich außerhalb von Wallsend. Vera wusste, dass es eigentlich nicht ihre Sache war, mit ihm zu reden. Solche Kleinarbeiten hätte sie ihren Mitarbeitern überlassen sollen. Wie sollten sie es sonst auch lernen? Aber sie war nun einmal besonders gut darin. Und wenn sie an Julie Armstrong dachte, die jetzt allein mit ihrer Tochter und ihren Erinnerungen in dem Haus in Seaton saß, war sie sicher, dass sie es niemandem sonst überlassen konnte.
Die Armstrongs bewohnten eine Doppelhaushälfte aus Backstein mit einem kleinen Vorgarten, den eine Lavendelhecke von dem der Nachbarn trennte, sowie einer mit Natursteinen gepflasterten Zufahrt und einer angebauten Garage. Die Bauherren hatten jeden Zentimeter des Areals, das früher drei Kohlezechen beherbergt hatte, gewinnbringend genutzt, und das Ergebnis war ein ganz angenehmes Wohngebiet, wenn man nichts gegen diese Art des gemeinschaftlichen Wohnens hatte: lauter kleine Sackgassen, in denen die Kinder gefahrlos Rad fahren konnten. Die Bäume, die in den Gärten gepflanzt worden waren, wuchsen langsam heran. Draußen vor den Häusern hingen Blumenampeln, in den Einfahrten parkten blitzsaubere Autos. Kein Grund, die Nase zu rümpfen, ermahnte sich Vera.
Sie war nicht sicher, ob Geoff Armstrong überhaupt zu Hause sein würde. Als sie angerufen hatte, war ein Anrufbeantworter angesprungen, doch sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Im Grunde war es ihr sogar lieber, ihn unvorbereitet anzutreffen. Langsam fuhr sie die Straße entlang, auf der Suche nach dem richtigen Haus. Es war drei Uhr, aus der Grundschule an der Ecke stürmten die jüngeren Kinder nach draußen. Die Mütter, die auf dem Schulhof warteten, hatten einen rosigen Teint und wirkten leicht benommen nach dem sonnigen
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