Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
Kopf auf das Foto von Emily. «Wer ist das denn?»
    Gary spürte, wie er rot wurde, er konnte gar nichts dagegen tun. Sie hatte wohl einen sechsten Sinn, weil sie so zielsicher auf das Foto zugegangen war. «Eine alte Freundin.»
    Sie blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete das Foto. «Merkwürdiges Mädchen», murmelte sie wie zu sich selbst. «Ganz hübsch, wenn man auf den magersüchtigen Typ steht.»
    Sie war schon halb aus der Tür, als Gary sie noch einmal zurückrief. «Was soll ich denn jetzt mit Julie machen? Soll ich sie anrufen?»
    Vera hielt kaum eine Sekunde inne. «Das müssen Sie schon selbst entscheiden, Herzchen.»

KAPITEL NEUNZEHN 
    Am Montagmorgen wurde Gary geweckt, weil sein Pager piepste. Er war so eingestellt, dass er sich nur meldete, wenn es Großalarm gab, wenn also irgendwo im Land ein außergewöhnlich seltener Vogel gesichtet wurde. Es war erst sechs Uhr, doch hier im Norden war es um diese Jahreszeit schon seit über einer Stunde hell. Der Pager lag auf dem Fußboden neben dem Bett, und Gary angelte danach, drückte ein paar Knöpfe und kniff dann die Augen kurz zusammen, um die Nachricht lesen zu können. Inzwischen reiste er zwar längst nicht mehr durch halb England, um einen seltenen Vogel zu sehen, doch der übliche Adrenalinschub setzte trotzdem ein.
    Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was erda las.
Sardengrasmücke im Naturschutzgebiet Deepden, Northumberland.
Das war sein Gebiet. Der Ort, wo Clive und er von Peter und Samuel das Beringen gelernt hatten. Der einzige Ort, an dem es ihm je gelungen war, Emily eine Zeit lang zu vergessen. Schon spürte er den unvermeidlichen Neid.
Das hätte ich sein müssen. Ich hätte sie entdecken sollen. Und wenn schon nicht ich, dann wenigstens einer von den anderen.
Eigentlich hätte es ja Clive sein müssen, dachte er. Ihm bedeutet das von uns allen am meisten. Clive sprach so gut wie nie von seiner Mutter, aber man merkte ihm an, dass er eigentlich nur dank der Wochenenden in Deepden nicht durchgedreht war. Er war auch immer noch hingefahren, als die anderen sich schon längst mit anderen Dingen befassten.
    Während Gary noch über all das nachdachte, war er bereits aus dem Bett gesprungen und hatte das Handy in der Hand. Er besaß als Einziger einen Pager. Die anderen behaupteten, das aus Prinzip abzulehnen. Schließlich interessierten sie sich ganz allgemein für Naturkunde und nicht nur dafür, seltene Vögel abzuhaken. Als Erstes wählte er Peters Nummer. Wenn man sie als Bande betrachtete, war Peter Calvert der Anführer; und obwohl es angeblich unter seiner Würde war, eine Liste der gesichteten Vögel zu führen, würde er das doch auf keinen Fall versäumen wollen. Schließlich hatte er zu der Gruppe gehört, die die Beobachtungsstation in Deepden in den sechziger Jahren begründet hatte.
    Peter hörte sich Garys aufgeregtes Geschnatter an und fluchte dabei leise vor sich hin. «Ich habe um zehn eine Vorlesung. Aber wenn sie natürlich gut zu sehen ist und ich sie gleich entdecke   …» Gary wusste, er würde hinfahren, Vorlesung hin oder her. «Ich rufe Sam an», fuhr Peter fort. «Er hat vor der Arbeit sicher noch Zeit genug, um hinzufahren.»Gary widersprach nicht. Er wusste, dass es außer Peter keiner von ihnen wagen durfte, den Schriftsteller Sam um diese Uhrzeit anzurufen.
    Nachdem er aufgelegt hatte, rief er umgehend bei Clive an. Der würde mitkommen, da bestand kein Zweifel. Zur Not würde er auch einen Tag krankfeiern, die Nacht in der Station verbringen und es am nächsten Morgen wieder versuchen. Aber er brauchte natürlich eine Mitfahrgelegenheit. Als Clive schließlich abnahm und sich flüsternd meldete, weil seine schreckliche Mutter im Zimmer nebenan schlief, hatte Gary sich bereits den Feldstecher um den Hals und das Spektiv über die Schulter gehängt und war die erste Treppe hinunter.
    Gary hatte die Gründungsgeschichte der Beobachtungsstation Deepden sicher schon tausend Mal gehört. Als sie als Jugendliche jedes Wochenende hinfuhren, hatten die älteren Mitglieder viel davon erzählt. Wenn sie nach einem Tag Vögelberingen abends bei Whisky oder Bier vor dem Kamin saßen, genossen sie noch einmal den Triumph, endlich das Geld aufgebracht zu haben, um der alten Frau, der es damals noch gehörte, das Haus abzukaufen. Sie erinnerten sich daran, wie sie den Garten angelegt, den Teich ausgehoben, Schneisen für die Fangnetze ins Unterholz geschlagen hatten. An die große Eröffnungsfeier

Weitere Kostenlose Bücher