Totenblüte
stachlige Buddleiabüsche für die Schmetterlinge ringsum und Sträucher, die im Herbst Beeren trugen und Drosseln anlockten.
Die Fangnetze waren ausgebreitet, es musste also eine Gruppe zum Beringen dort sein. Wahrscheinlich hatten sie die Sardengrasmücke beim ersten Kontrollgang an den Netzen entdeckt. Im Obstgarten hinter dem Haus hatten sich die Vogelfreunde versammelt.
Die Sardengrasmücke war auf einer Weißdornhecke gesichtet worden, die das Naturschutzgebiet begrenzte. Die Vogelbeobachter standen im Halbschatten der Apfelbäume und schauten angestrengt durch ihre Feldstecher. Es ließ sich nicht erkennen, ob der Vogel tatsächlich zu sehen war oder ob sie nur nach ihm Ausschau hielten. Als Gary in den Garten kam, hatte Clive sein Stativ bereits aufgebaut und das Spektiv in Anschlag gebracht.
«Vor zehn Minuten ist sie wieder im Gebüsch verschwunden», berichtete er. «Und kein Mensch kann mir sagen, wohin genau.» Seine Stimme klang, als wollte er gleich jemanden umbringen.
Gary vermutete, dass sie wohl alle im Gespräch gewesen sein mussten, als die Grasmücke weggeflogen war. Weiter hinten entdeckte er Peter und Samuel, die entspannt lächelten und mit den anderen plauderten. Wenn man denVogel einmal gesehen hatte, ließ die Anspannung nach, man passte nicht mehr so genau auf. Er hielt das Fernglas auf die Hecke gerichtet und spürte die Unruhe wie einen schmerzhaften Knoten im Magen. Diese Art des Vogelbeobachtens mochte er überhaupt nicht. Es war ihm einfach zu viel Stress, zu warten, wenn man zwar wusste, dass der Vogel da gewesen war, aber nicht, ob er immer noch da war. Seit der Sache mit Emily konnte er Stress nicht mehr gut verkraften. Deshalb beobachtete er auch lieber das Meer. Für ihn gab es nichts Entspannenderes, als im Ausguck neben dem Leuchtturm zu sitzen. Ob dort Vögel vorbeikamen oder nicht, konnte man ohnehin nicht beeinflussen, es gab also keinen Grund, nervös zu werden. Jetzt allerdings spürte er, wie ihm das Herz immer schneller schlug, er musste sich zwingen, seinen Atem ruhig zu halten, und fragte sich, ob es richtig gewesen war herzukommen.
«Da ist sie.» Clive stand immer noch über sein Spektiv gebeugt und sprach so leise, dass nur Gary ihn hören konnte. «Etwa vier Meter vom Zaun in unsere Richtung, ganz oben auf dem kahlen Ast.» Dann hatte auch Gary sie gefunden. Sie nahm das ganze Sichtfeld seines Spektivs ein. Er sah die Innenseite des Schnabels, als die Grasmücke zu rufen begann, er sah sogar ihre Augenfarbe. Der Wahnsinn. Erst die sechste Sichtung in ganz Großbritannien, und das ausgerechnet hier in Deepden. Das war es doch wert gewesen, um sechs Uhr früh aus dem Bett geworfen zu werden, und auch die lange Anfahrt und der ganze Stress hatten sich gelohnt.
Diejenigen, die bei Gary und Clive standen, hatten die Aufregung mitbekommen und den Vogel jetzt ebenfalls entdeckt. Dann verschwand die Grasmücke wieder hinter der Hecke, und alle standen da und strahlten. Ein paarverabschiedeten sich bereits wieder und sagten etwas von Schinkensandwiches und Büro. Clive blieb konzentriert, und als der Vogel sich erneut zeigte, ein Stück weiter weg auf einem abgestorbenen Baum am Rand des Feldwegs, entdeckte er ihn.
Peter Calvert konnte gar nicht aufhören zu reden; man hätte meinen können, er hätte die Sardengrasmücke höchstpersönlich als Erster gesichtet.
«Wir haben hier jedes Jahr mindestens einen Vogel, der auf der britischen Seltenheitsliste steht. In diesem kleinen Naturschutzgebiet. Dabei haben sie uns, als wir anfingen, alle noch erklärt, wir würden unsere Zeit verschwenden.» Gary nahm belustigt zur Kenntnis, dass Peter sich immer noch mit Verdiensten brüstete, die inzwischen vierzig Jahre zurücklagen. Ihn störte das ja nicht, aber er konnte verstehen, dass manche Leute solche Reden in den falschen Hals bekamen.
«Ich muss los», sagte Peter jetzt. «Ich muss zu meiner Vorlesung. Ich kann die Studenten ja schließlich nicht hängenlassen. Was ist mit dir, Clive? Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?»
Und obwohl man Clive ansah, dass er gern noch ein wenig Zeit mit dem Vogel verbracht hätte, klappte er die Beine des Stativs zusammen und folgte Peter zum Wagen. Peter war immer noch sein großer Held. Wahrscheinlich, dachte Gary, würde Clive auch in ein brennendes Haus laufen, wenn Peter das von ihm verlangte. Draußen auf dem Feldweg kamen immer noch mehr Autos an. Ein Vorstandsmitglied der Beobachtungsstation postierte sich mit einem Eimer am
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