Totenblüte
der Beobachtungsstation, zu der alles kam, was im Bereich Naturkunde Rang und Namen hatte. Möglicherweise war aber, nachdem die Arbeit getan war, auch die Spannung verflogen, denn schon damals verbrachten sie mehr Zeit beim Teetrinken im Haus als draußen auf dem freien Feld. Inzwischen campierte eine neue Generation von Vogelbeobachtern in den beiden Schlafsälen. Sie torkelten spätnachts dorthin zurück, nachdem sie bis weit über die Sperrstunde im Fox and Hounds im DorfDeepden gesoffen hatten, und spürten die seltenen Vögel auf.
Die vier Freunde hatten ihre regelmäßigen Besuche dort erst vor ein paar Jahren eingestellt. Es war ein Statement gewesen. Ein Protest. Gary hatte sich damals schon mehr für Seevögel interessiert und sich entsprechend rargemacht. Er erinnerte sich nicht einmal mehr genau, worum die Auseinandersetzung sich gedreht hatte. Es mussten wohl irgendwelche politischen Fragen innerhalb des Trägervereins gewesen sein. Vielleicht hatte Peter auch einfach nur gefunden, dass man ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Jedenfalls war er als Vorsitzender zurückgetreten, und die anderen drei hatten sich hinter ihn gestellt. Und damit hatten die rituellen Wochenendaufenthalte in der Beobachtungsstation ein Ende. Clive nahm es damals schwerer als die anderen. Er hatte ja sonst kein Leben – es sei denn, er führte irgendein Doppelleben, das er vor ihnen geheim hielt. Gary traute ihm das durchaus zu. Natürlich schauten sie immer noch hin und wieder in Deepden vorbei, aber es war doch ziemlich merkwürdig, nicht mehr dazuzugehören.
Clive wartete bereits draußen vor dem einstöckigen Haus seiner Mutter. «Wir hätten gestern, nachdem wir in Fox Mill waren, noch hinfahren sollen.» Es war das Erste, was er sagte, noch bevor er Gary begrüßt hatte oder in den Wagen gestiegen war. Die ganze Fahrt nach Norden blieb er angespannt, hockte vorgebeugt, mit hochgezogenen Schultern, auf dem Beifahrersitz. Gary erzählte ihm von Julie, von ihrem Sohn, der getötet worden war. Sie redeten alle gern mit Clive, weil sie wussten, dass er Geheimnisse für sich behalten konnte.
«Was muss das für ein Albtraum sein», sagte er. «Stell dir das nur mal vor, den eigenen Sohn so zu verlieren! Und fürdie Schwester erst. Die hat im Nebenzimmer geschlafen, als es passiert ist.»
Clive schwieg und zeigte erst wieder eine Regung, als das rote Lämpchen an Garys Pager aufblinkte und es Neues von der Grasmücke gab.
Die Beobachtungsstation war für die Zugvögel der erste Ort, den sie ansteuerten, wenn sie die Küste erreichten. Der flache Bungalowbau lag einen knappen halben Kilometer landeinwärts. Er war noch vor dem Krieg als Ferienhaus erbaut worden und umgeben von mehr als viertausend Quadratmetern Garten, dem eigentlichen Vogelschutzgebiet. Vor allem die Lage des Hauses hatte für die Gründer den Ausschlag gegeben. Der Bungalow selbst hätte gut auch in ein Küstenstädtchen gepasst: ein niedriges, nicht sehr ansehnliches Gebäude aus weiß verputztem Backstein, das nur durch die gerade erblühenden Klematis auf der Terrasse ein bisschen ansprechender wirkte.
Sie waren von der A1 nach Osten abgebogen und der Morgensonne entgegen eine schmale Straße entlanggefahren, hatten ein hässliches Dörfchen durchquert und schließlich einen Feldweg genommen. Die Station befand sich am Ende dieses Weges. Dort parkten bereits ein halbes Dutzend Wagen. Gary entdeckte Peters Volvo und den kleinen V W-Sportwagen , den Samuel sich kürzlich geleistet hatte. Clive war bereits aus dem Wagen, bevor Gary den Motor ausgestellt hatte, stürmte durch das hölzerne Tor in den Garten und überließ es Gary, ihm nachzukommen und das Tor hinter sich zu schließen. Der Garten selbst war eine Oase in dem flachen, wüsten Land rings um das Haus. Landeinwärts erstreckte sich ein großes Tagebaugebiet, eine Mondlandschaft aus felsigen Plateaus und Gruben, über die bereits gewaltige Laster mit riesigen Reifen krochen. Zwischen dem Haus und der Dünenkette,hinter der die Küste begann, grasten Kühe auf einer schmalen Weide.
Der Garten war so angelegt, dass Vögel und Insekten gern dorthin kamen. Sie hatten den Rasen umgegraben und stattdessen einen Teich angelegt, der inzwischen so von Pflanzen um- und überwuchert war, dass man die Wasserfläche kaum noch sehen konnte. Seerosen breiteten ihre flachen, glänzenden Blätter darüber, Schilf wuchs dicht an dicht. Und anstelle der einstigen Rabatten wucherten jetzt große,
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